Ozeansegeln. Reiseaufzeichnungen

b-log

reiseberichte

boot + crew

partner

rss-feed

kontakt

Zurück
Es fühlt sich an, als sei es schon länger her, weil das Boot inzwischen eingewintert ist, aber erst gestern früh um neun bin ich von wieck zum Liegeplatz gefahren, habe mit Hängen und Würgen das Boot in die Box gelegt und die Winterfahrt zum Abschluss gebracht.
Die letzte Fahrt von Hiddensee bis Wieck war wunderbar. Nach zwei Tagen mit sehr schlechter Sicht, viel Wind und Regen waren die Wolken am morgen verschwunden und die Dämmerung leuchtete rot hinter dem östlichen Horizont, hinter Rügen herauf. Ich war schon früh wach, hatte für die fünfzehn Meilen bis zur Brücke in Stralsund dreieinhalb Stunden eingeplant, obwohl der Wind eine schnellere Fahrt erhoffen ließ. Aber allein unterwegs bin ich etwas langsamer als mit Crew, einfach weil ich weniger Segel setze, so jedenfalls auf der Hinfahrt. Mit vier bis fünf Knoten und Puffer für bis zu zwei Beaufort nach oben hatte ich mich damit wohl gefühlt.
Also stand ich früh auf, trotzdem gut ausgeschlafen, weil am abend rechtzeitig zu Bett, packte das Stromkabel ein, schlug die Segel an, sortierte die Leinen, startete den Motor. Der Wind wehte inzwischen aus Nordwest, also von schräg vorne, so, dass das Boot gegen die Mole gedrückt wurde. Ablegen deshalb problematisch. Zu zweit lässts ich das Boot bei fast jeder Windsituation gut händeln. Alleine ist das nicht so einfach. Die klassische Situation, wenn das Boot über die Vorspring manövriert wird, ist allein nicht so einfach zu bewerkstelligen, vor allem dann nicht, wenn das Hafenbecken recht klein ist. Entweder ich habe Hilfe von außen, also jemand, der die Leine an Land loswirft, wenn das Boot mit dem Heck ausreichend weit raus gedreht ist und ich rückwärts fahren kann, oder ich muss die Leine sehr lang lassen, auf Slip legen und dann kurz nach dem rausziehen rückwärts nochmal aufstoppen, nach vorne laufen und die Leine lösen. Bei solchen zeitkritischen Aktionen muss dann aber auch alles klappen, sonst kann das Manöver schnell aus dem Ruder laufen.
Eine zweite Möglichkeit ist, das Boot mit dem Bootshaken weit genug vom Steg wegzudrücken, um rückwärts wegzufahren. Das probierte ich aus, während das Boot noch an den Leinen hing. Funktioniert. Also Leinen los. Ich nehme die Leinen an Land weg, drücke dann das Boot von Land aus weg von der Mole, steige an Bord -- leider falsch gemacht. Der Wind schiebt das Boot rückwärts und drückt es sofort wieder an die Mole, noch bevor ich den Bootshaken ansetzen kann. Als ich den Bootshaken an der abgerundeten Molenkante endlich angesetzt habe, machen wir schon rückwärts Fahrt. Ich drücke mit aller Kraft, als mich plötzlich ein Typ anspricht, der gerade mit seinem Fahrrad vorgefahren ist. Ich schulde ihm noch Geld. Wegen dem Strom. Kurz bin ich entgeistert, dann gehe ich ins Cockpit, stoppe das Boot auf und lege die Vorspring nochmal fest. Ist wohl einer der Fischer. Im letzten Moment. Aber das Manöver war sowieso verpatzt. Wahrscheinlich hat mir der Fischer sogar irgendwas gerettet, den großen Fender hätte ich sicher abrasiert und dann wieder auffischen müssen, oder schlimmer, das Boot wäre mit dem Bugkorb an einem der Dalben hängengeblieben.
Obwohl ich gleich zu Rechtfertigungen greife (ich hätte geschaut, aber da sei keiner gewesen usw.) bleiben die beiden, inzwischen ist noch ein zweiter gekommen, freundlich. Fragen, wo ich hin will, ob das Boot den Winter über im Wasser bleibt und so. Obwohl ich wegen der Brücke ein wenig in Eile bin, bin ich auch neugierig. Während der Saison kommt man mit den Fischern nicht so gut ins Gespräch. Im Sommer werden die von Touristen belagert und sind deshalb meist recht wortkarg. Jetzt im Winter fahren sie auch raus, Hering ist möglich, aber man weiß es nicht genau, kann auch sein dass nicht. Ein wenig überrascht bin ich, als einer der beiden meint, dass sie nur bis fünf Beaufort überhaupt rausfahren. Weniger wegen dem Wind als wegen den Wellen, "da springen dir die Fische aus der Kiste". Segelboote seien eben stabiler in der Welle. Stimmt. Und ist mir, wo er das erklärt, auch völlig verständlich. Irgendwie hab ich trotzdem immer gedacht, dass die Fischer bei jedem Wind und Wetter rausfahren. Vielleicht weil ich mal während eines Sturms über dem Greifswalder Bodden zwei Fischer auf dem Ryck gesehen habe, die ihr Netz dort einholten. Aber der Ryck ist eben ein kleiner Fluss, da gibts keine ernstzunehmenden Wellen.
Weil ich nur einen Hunderter hab, die Fischer aber nicht wechseln können, laufe ich zum Verkaufsschalter für die Fähre, wo man mir zwei Fünfziger gibt. Immerhin. Einer der Fischer macht sich mit einem Fünfziger auf zum Wechseln. Ich seh die Brücke schon langsam wieder zugehen. Und freue mich dabei heimlich auf einen Gang in eine der ältesten Hafenkneipen Europas, meine Stralsunder Lieblingskneipe, die ich bei den letzten Touren leider immer verpasst habe, weil wir nicht in Stralsund übernachtet haben.
Aber schon ist der Fischer wieder da und hat das Geld gewechselt. Zwei Euro pro Nacht wollen sie haben für den Strom. Ich drücke ihm einen Zehner in die Hand, weil ich mit dem Heizlüfter bestimmt für zehn Euro Strom verbraucht habe. Dann gehe ich an Bord, will jetzt zügig weg. Der zweite Fischer kümmert sich um die Vorspring und so geht das Ablegen jetzt leicht von der Hand. Ich winke und grüße, dann gehts raus auf den Bodden.
Weil der Wind während der ganzen Fahrt von hinten kommen wird, habe ich die 35er angeschlagen, das Arbeitssegel für fast alle Gelegenheiten bis fünf Beaufort. Das Großsegel ist noch im dritten Reff, was gut zur 35er passt. Ein Stück weiter draußen, Leinen und Fender habe ich schon weggepackt, setze ich beide Segel. Dann nehme ich Kurs auf das Fahrwasser nach Stralsund. Der Wind war im Hafen schon nicht schlecht, draußen ist er sogar deutlich stärker. Es weht mit gut fünf Beaufort, in Böen sechs. Das Boot ist überpowert und reagiert selbst auf Raumwindkurs sehr nervös. Mit sechseinhalb bis sieben Knoten rasen wir durchs Fahrwasser. Ich mag schnellsegeln, aber bei diesem Speed sind wir in zwei Stunden da, also eineinhalb Stunden zu früh. Im Fahrwasser Segel wechseln geht aber auch nicht. Also schnell. Konzentriert steuern, die Böen vorhersehen, das nervöse Austicken spüren, bevor es kommt. Mit etwas Zeit und Konzentration werden meine Ruderausschläge geringer, ich werde ruhiger, das Boot wird ruhiger. Und während ein Teil von mir beim Steuern bleibt, lasse ich ein wenig die Gedanken schweifen, blicke zurück zur Insel, wo ich in den vergangenen zwei Tagen bei ausgedehnten Spaziergängen durch die abgedeckten Landschaften die reizarme Umgebung erst ertragen und dann genossen habe.
Kurz vor Stralsund berge ich das Vorsegel und drehe bei. Außer mir ist nur ein Motorboot unterwegs, das aber schon Kurs auf den Hafen genommen hat und von uns weg fährt. Ich habe noch eine dreiviertel Stunde Zeit und gehe unter Deck, koche mir einen zweiten Kaffee, schütte ein paar Nüsse ins Müsli, das ich schon am Morgen vorbereitet habe. Am Kartentisch überlege ich, ob ich unter Segeln durch die Brücke gehen kann. Der Wind weht so, dass er uns genau von hinten schieben könnte. Ob das drin dann tatsächlich so aussieht, lässt sich von hier draußen aber nicht sehen. Ich lasse das Vorsegel unten und nehme Kurs auf den Hafen, fahre erstmal ohne Motor rein, das Segel kann ich dann vor der Brücke immer noch bergen, wenn die Windverhältnisse nicht optimal sind. Denn optimal müssen sie schon sein. Die Ziegelgrabenbrücke ist massiv, und wenn der Wind ein wenig seitlich einfällt, bilden sich große Windlöcher. Und das ist nicht gut, weil in der Durchfahrt immer ein Strom setzt und die dicken Brückenpfeiler für böse Verwirbelungen sorgen. Das Boot muss immer in Fahrt bleiben, sonst dreht es sich womöglich kreuz und quer. Und bei der Kälte wäre im Falle eines Falles auch der Motor nicht schnell genug zu starten. Aber der Wind steht tatsächlich direkt auf die Brücke. Ich fahre testweise recht dicht heran, nur mit dem Großsegel kommt das Boot auf genug Speed, um die Durchfahrt zu machen. Das Signal schaltet um von Gesperrt auf Bitte Warten.
Zwanzig Minuten später geht die Brücke auf. Bei der Durchfahrt klopft mir das Herz. Hoffentlich geht das gut. Manchmal nehme ich mir Dinge vor, die mir dann in dem Moment, in dem ich sie durchführe, ungeheuerlich werden. Zumindest kurz. Dann sind wir schon durch und folgen dem breiten Fahrwasser.
Von hier aus sind es noch zwanzig Meilen bis Wieck. Gut vier Stunden ist es noch hell. Der Wind kommt von hinten und weht frisch genug, um uns mit fünf Knoten oder mehr voran zu bringen. Weil das Boot auf der Fahrt nach Stralsund mit beiden Segeln so unruhig war, berge ich jetzt das Großsegel und setze nur das Vorsegel. Vor dem Wind läuft das Boot ruhiger, wenn mehr Segelfläche vorne ist.
Als der Strelasund nach seinen Mäandern und der Hochspannungsleitung wieder breiter wird, schalte ich den Autopiloten ein, wandere ein wenig über Deck, öffne alle Luken, damit das Boot von innen etwas trocknen kann, lege mich im Cockpit auf die Bank und halte das Gesicht in die Sonne. Der Himmel strahlt in Blau, vereinzelt schweben weiße Wolken über Land, das Boot zieht seine Bahn durchs kalte Wasser, niemand sonst ist unterwegs, die Erde, zumindest dieses Stück, ist wild und verlassen, nur die Seevögel ziehen hier und da fliegend oder schwimmend ihre Bahnen.
Kurz vor Stahlbrode werden wir langsamer. Ich setze das Großsegel. Langsam geht der Tag zur Neige, die Sonne senkt sich im Westen schon zum Horizont. Vor uns öffnet sich der Greifswalder Bodden. Die Luft ist so klar, dass ringsherum alle Ufer zu sehen sind, und sogar die Silhouette der Greifswalder Oie ist in der Ferne klar und deutlich zu erkennen. Mir geht das Herz auf und die Sehnsucht, die ich lange nicht mehr gespürt habe, wird wieder groß. Einfach weiter fahren, raus aufs Meer, heute abend einen Hafen finden, weil Sturm kommt, nach dem Sturm weiterfahren, draußen sein, Segel setzen, Segel bergen, Routen planen, Kurse steuern, den Wind von hinten an den Ohren spüren.
Und doch ist es gut, dass es wieder rein geht. Das anziehende Sturmtief ist mit seiner warmen Luft (warm = vier bis fünf Grad über Null) das Schlusswort vor dem Wintereinbruch. Aimé muss an ihren Liegeplatz und eingewintert werden. Und ich muss wieder ins Warme, Sehnsucht hin oder her.
Die Dämmerung macht es mir trotzdem schwer, rot glüht der Himmel im Westen, der Mond wird sichtbar, und die ersten Sterne. Die alten Plattformen haben wir passiert, die Fahrwassertonnen heben sich nur noch als Schatten vor dem langsam dunkler werdenden Himmel ab, die Leuchtfeuer und Leuchttonnen sind schon eingeschaltet. Schon vor einer halben Stunde habe ich die Navigationslichter angemacht, und immerhin ein Boot ist unterwegs, die Küstenwache auf Patrouille. Letzte Blicke über den Bodden. Obwohl ich den Kreis nicht geschafft habe, spüre ich ein Gefühl von accomplishment, ich bin alleine im Winter eine Woche unterwegs gewesen, habe einen Sturm im Hafen abgewettert, habe der Kälte getrotzt, das Boot alleine gesegelt und gehändelt, und es hat, neben allem innerlichen Fluchen wenn Wetter oder Material nicht so mitspielten, wie ich das gerne wollte, große Freude gemacht.
Kurz vor der Hafeneinfahrt berge ich beide Segel und bereite dann die Leinen vor. Im Hafen ist es fast windstill und ich lege wieder längsseits dort an, wo die Reise begonnen hat. Das Stromkabel schließe ich diesmal nicht an, vielleicht erlässt mir der Hafenmeister die Gebühr. Am nächsten Morgen um neun fahre ich durch die Brücke, die extra für mich geöffnet wird. Vielleicht sogar das erste Mal in diesem Jahr?
Auf dem Weg zum Liegeplatz kommen mir zwei Fischer in einem kleinen Motorboot entgegen, der Mann im Bug hebt grüßend die Hand. Die Leinen bereite ich vor, während wir die lange, breite Gerade entlang fahren. Autopilot machts möglich. Es hat angefangen zu nieseln und ich habe mir meine Regenhose und meine Regenjacke angezogen. Der Himmel ist konturlos grau, das Sturmtief Axel kündigt sich an. Noch aber weht der Wind nur mäßig aus Südwest. Dann sind wir beim Liegeplatz, am Anfang und am Ende dieser Fahrt. Nachdem die meisten An- und Ablegemanöver in der letzten Woche gut geklappt haben, vergeige ich das Einparken in die Box gewaltig (aber ohne Schaden). Jetzt bleibt nur noch, das Boot einzuwintern. Wasser aus den Leitungen drücken, Segel von der Bordwand weg, zum Teil in den Salon, damit sie nicht gammeln, Fallen und Reffleinen abschlagen, Wasser aus der Bilge, alles nochmal durchputzen, Batterien aus dem Barographen nehmen, Bett abziehen, schmutzige Wäsche einpacken, leere Flaschen wegbringen, die Heizung nochmal gut durchlaufen lassen, die Motorwelle ordentlich schmieren, Polster hochstellen, Batterien laden, Achterstag entspannen, Leinen so einstellen, dass das Boot mit dem Wasserstand auf und ab schwimmen kann, die Persenning montieren, schließlich ein letzter Blick am Abend und Abschied bis zum Frühjahr, wenn das Eis, das in den nächsten Wochen kommen wird, wieder geschmolzen ist, Luft und Wasser wieder wärmer werden und die nächste Fahrt beginnen kann.

09. Jan. 2017

Diesig
Das Jahr ging diesig zu Ende und hat diesig angefangen. Seit zwei Tagen bin ich in Neuendorf auf Hiddensee. Der Wind weht mit fünf bis sechs Beaufort aus Südwest. Eigentlich perfekt, um außenrum zurück nach Greifswald zu segeln. Leider war es gestern und heute so diesig, dass ich nicht alleine durch die schmalen Boddenfahrwasser navigieren wollte. Teilweise war nicht einmal das Tonnenpaar kurz vor der Hafeneinfahrt zu sehen. Und um in den Fahrwassern den Kurs zu halten, braucht man wenigstens Sicht auf zwei Tonnenpaare oder sogar ein Stück Land hinter der Tonne, wegen der Deckpeilung. Ohne Deckpeilung vertreibt man schnell, und da hilft es auch nichts, wenn man das nächste Tonnenpaar sieht, man braucht den Tonnenstrich. Der Seewetterbericht hatte zur diesig schlechten Sicht auch Nebelfelder angekündigt. Kurz: Ich bin gestern und heute wegen des unsichtigen Wetters im Hafen geblieben. Und weil für morgen nördliche Winde und Sonnenschein, für übermorgen aber wieder Sturm angekündigt ist, fahre ich morgen in einem Rutsch zurück in den Heimathafen.
Die volle Wahrheit ist, dass ich nach den kalten Tagen unterwegs und den kalten Nächten ohne Strom, also ohne Heizlüfter, nur mit der Bordheizung, gestern auch zu erschöpft war, um bei fünf bis sechs Beaufort alleine loszufahren.
Die Nacht vor Anker im Strelasund war besonders kalt: Minusgrade. Kam mit dem Wetter, der Tag war herrlich sonnig gewesen, Hochdruckwetter, und im Hochdruck ist die Luft eben kalt. Und klar. Als ich abends nochmal an Deck ging, war der Sternenhimmel unglaublich. So viele Sterne. Ein paar konnte ich erkennen. Orion, die Pleiaden. Und die Milchstraße war deutlich zu sehen. Wahnsinn. Ich hatte vergessen, wie großartig es ist, unter einem solchen Himmel zu stehen. In der Stadt sieht man die Sterne nicht. Jedenfalls sieht man nur die hellsten, und das sind die wenigsten. Wenn ich bald wieder raus will mit dem Boot, dann auch wegen diesem Himmel.
Richtig lang konnte ich den allerdings nicht genießen, die Kälte trieb mich wieder rein. Die Nacht war kalt, der Wind war im Rigg gut zu hören, hielt sich aber an die vier bis fünf Beaufort aus den Grib-Daten. Ich hatte nach dem ersten Manöver kurz gedacht, dass ich zuwenig Kette gegeben habe. Und für stärkeren Wind hätte es auch in der Tat nicht gereicht, verriet der Blick in die Ankergeschirrdiagramme fürs Boot, aber für den erwartbaren Wind wars okay. Ich schlief ruhig und fest.
Am nächsten Morgen machte ich die Heizung nicht an, stieg gleich aus dem Bett, weil bis zur Brücke noch ein paar Meilen zu machen waren. Kaffee brachte mich hoch. Für diese Situationen lohnt es sich, sonst auf Kaffee eher zu verzichten. Das Koffein kickt einfach besser, wenn ich dann mal welchen trinke. Oben an Deck war alles komplett vereist. Obwohl die Sonne schon über den Horizont gestiegen war, schmolz die Eisschicht nicht ab. Warten ging nicht. Ich ging vorsichtig zum Bug, immer darauf achtend, die Füße so zu setzen, dass sie zur abschüssigen Seite des Decks einen Halt haben. Das ging erstaunlich gut. Klar, rutschig, vielleicht ein bisschen so wie verschneite Steinstufen, die schon so ausgetreten sind, dass die Stufenfläche leicht abschüssig ist. Aber auch so eine Treppe kommt man, mit etwas Vorsicht, hinunter.
Auftakeln dauerte etwas länger, aber dann war das Vorsegel angeschlagen, das Großsegel klar, und ich holte den Anker auf. Es kam der übliche Boddenschmodder mit hoch, glücklicherweise erst am Ende, und dafür war es wohl auch gut, dass ich nicht so viel Kette gesteckt hatte. Eingegraben hatte sich der Anker jedenfalls, es hingen noch ordentliche Modderbrocken, mit Muscheln, an der Fluke.
Als der Anker schließlich verstaut war, setzte ich erst das Vorsegel, dann das Großsegel. Die Sonne schien inzwischen schon etwas wärmer, das Eis schmolz langsam. Ich hatte das kleine Starkwindvorsegel gesetzt, das Großsegel im ersten Reff. Damit erreichten wir erstmal nur vier Knoten. Aber als sich hinter der Hochspannungsleitung der Sund nach Westen wandte, frischte der Wind ordentlich auf, Aimé legte sich schön auf die Seite und zog heftig an. Als wir wieder abfallen konnten und Kurs auf die Brücke nahmen, blieb der Wind und schob und mit sechseinhalt Knoten durchs Fahrwasser. Ankunft deshalb eine dreiviertel Stunde zu früh. Mir wars recht. Ich barg die Segel und aß den Frühstücksbrei, den ich vor Abfahrt vorbereitet, aber nicht mehr eingenommen hatte. Bin nicht so der rustikale Frühstücker. Pain au chocolat und Café für den ersten Start. Weil ich keine Croissants dabei hatte (wie ginge das auch? Ich müsste eine ganze französische Bäckerei dabei haben, um mir diesen Wunsch erfüllen zu können. Deshalb geht die nächste Fahrt definitiv nach Frankreich.), weil ich also keine Croissants dabei hatte, stieg ich um auf industriell gefertigte Schokoladentörtchen, in Plastik verpackt. Kein Vergleich? Kein Vergleich. Aber Frühstück ist Frühstück, irgendwas muss es halt geben.
Weil ich alleine vor der Brücke dümpelte, ging ich unter Deck, um die weitere Route nochmal durchzugehen und auf dem Plotter die Strecke nachzumessen. Und um ein Wenig aus dem Wind zu kommen und mich aufzuwärmen. Als ich wieder an Deck kam, war da plötzlich noch eine andere Yacht. Wo waren die so schnell hergekommen? Segel schon eingepackt, vielleicht aus dem hiesigen Yachthafen. Auf dem Weg durch den Strelasund hatte ich jedenfalls nichts gesehen, auch nicht in der Ferne. Eine andere Yacht wäre mir aufgefallen. Abgesehen von einem kleinen Bötchen mit zwei hartgesottenen Anglern war auf dem Sund nichts los gewesen.
Aimé treibt quer zum Wind. Das andere Boot fährt Kreise. Merkwürdigerweise ziemlich in meiner Nähe, obwohl eigentlich Platz wäre, es ist ja außer uns niemand da. Ich versuche Blickkontakt aufzunehmen, aber man registriert mich nicht. Na gut.
Bald geht die Brücke auf, und nach der Durchfahrt biege ich gleich ab, wieder raus auf den Sund, während die andere Yacht in den Hafen fährt. Ich setze wieder Segel und mache mich auf den Weg. Wind von der Seite, Sonne auch, Boot fährt wie von allein, ich bin gelassen und froh. Öffne die Luken, damit die trockene Luft ein bisschen durchs Schiff ziehen kann. An der Fahrwasserabzweigung in Richtung Barhöft hole ich mir die Seekarte nach oben. Bald geht es los mit den engen Fahrwassern. Ich kenne die Gegend schon seit vielen, vielen Jahren. Wie oft bin ich hier schon lang gesegelt? Das erste Mal vor mehr als zwanzig Jahren (allerdings nicht an genau dieser Stelle, sondern damals noch ein Stück weiter nördlich, von Breege aus nach Hiddensee).
Der Wind ist etwas weniger geworden, aber wir machen mit vier bis fünf Knoten auch mit den gerefften Segeln ausreichend Fahrt, um noch vor Einbruch der Dunkelheit in Neuendorf anzukommen. Von hinten kommt ein Segler auf. Offenbar hat man in Stralsund nur jemanden an Bord genommen und segelt jetzt weiter. Während wir mit Starkwindbesegelung im Gemütlichkeitsmodus laufen, kommt die Yacht von hinten unter Vollzeug schnell heran. Im schmalen Fahrwasser kommen sich die beiden Boote recht nah, und wir wechseln ein paar Worte. Drüben ist man ausgelassen, ich zähle vier Männer und eine Frau, es wird gescherzt. Nach Kloster wollen sie, da sei ab dreizehn Uhr am nächsten Tag Silvesterparty. Wo wir hin wollten? Ich bin doch allein, geht es mir durch den Kopf. Rund Rügen, sage ich. Was zu dem Zeitpunkt auch noch mein Plan, und zumindest mein Wunsch war. Aber auch wenn ich in Neuendorf bleibe, weil das Wetter sich verschlechtert, ist es eine gute Nachricht, dass die große Party am anderen Ende der Insel stattfindet.
Ein wenig später frischt der Wind böig auf. Ich sehe es in Luv schon dunkel auf uns zukommen. Aber mit der wenigen Segelfläche haben wir gute Reserven. Nicht so die andere Yacht, die sich ordentlich auf die Seite legt, dann just an der Stelle, an der das von der Tiefe her auch möglich ist, aus dem Fahrwasser ausschert und voll in den Wind schießt, um dann wieder abzufallen und mit viel Lage weiter zu segeln.
Als wir den Schaproder Bodden erreichen, verlasse ich das Fahrwasser. Hier ist es tief genug. Kurz überlege ich, ob ich doch in Klimphores Bucht ankern soll. Aber dann überwiegt mein Bedürfnis nach Landstrom und der Wunsch, nach der letzten Ankernacht mal wieder einen Fuß auf festes Land zu setzen und einen Spaziergang zu machen. Ein Stück neben dem Neuendorfer Fahrwasser berge ich die Segel und bereite Leinen und Fender fürs Anlegen vor. Ich will längsseits an die Mole, direkt beim Kran, im kleinen Fischerhafen. Dort weht der Wind jetzt, bei Südwest schräg ablandig, was für mein Anlegemanöver hilfreich ist. Wenns beim ersten Mal nicht funktioniert, kann ich einfach nochmal anfahren. Und das Boot liegt später gut in den Leinen. Außerdem, und das ist eigentlich das wichtigste, steht dort direkt das kleine Häuschen der Neuendorfer Fischereigenossenschaft. An diesem Häuschen haben die Fischer ihre Landstromsteckdosen, und ich hoffe, dass da auch jetzt im Winter Strom drauf ist, selbst wenn im Yachthafen alles abgeschaltet ist.
Als ich fertig bin mit den Vorbereitungen, biegen zwei Fähren aus dem Hauptfahrwasser ab und nehmen Kurs auf den Hafen. Ich lasse ihnen gerne den Vortritt. Dann tuckern wir langsam zum Hafen. Die erste Fähre fährt schon wieder raus, als wir ein Stück vor der Einfahrt sind. Der Kapitän grüßt freundlich, und ich fühle mich ehrlich ernst genommen, weil man sonst, während der Saison, von den Fährleuten nicht gegrüßt wird. Verständlicherweise, weil die sonst aus dem Grüßen gar nicht mehr heraus kämen.
Weil die zweite Fähre am Kai vor dem Fischerhafen liegt, fahre ich erstmal in den Yachthafen und warte kurz. Überlege, ob ich nicht doch in eine Box fahren soll. Allein in eine Box. Hab ich schon gemacht. Allerdings nicht bei soviel Wind. Müsste ich mit Mittelleinen machen. Aber auch dann nicht ganz einfach. Und vor allem das rauskommen dann, zumal bei Seitenwind, wenn der Wind dreht. Aber ich bin ja eine Segelyacht, und am Fischerhafen steht ein großes neues Schild, das sagt: Hier nicht für Sportboote! Dann legt die Fähre ab. Und ich bin zwar ein Sportboot, aber ich bin auch allein und es ist Winter, und deshalb fahr ich um die Ecke wie geplant. Mache das Manöver minimal unaufmerksam und komme ein Stück zu weit weg vom Steg zum Stehen. Versuche, das große Auge über den Poller zu werfen, klappt aber nicht. Ein freundlicher Spaziergänger nimmt die Leine an und legt das Auge über den Poller. Ich belege schnell das andere Ende. Aimé ist schon gute fünf Meter vom Steg weggetrieben und hängt jetzt nur an der Mittelklampe. Mit Vorwärtsgas ziehe ich das Boot langsam an die Mole. Der nette Mann hilft mir noch mit Vor- und Achterleinen. Und fragt dann, während ich noch mit der Vorspring beschäftigt bin, ob ich Fisch dabei habe. Als ganz ernst gemeinte Frage. Ich bin baff, aber klar, hier ist der Fischerhafen, hier löschen die Fischer ihre Ladung, wenn sie welche haben. Fisch hab ich nur in Dosen dabei, ist die Antwort, die mir erst später einfällt.
Und nun liege ich also seit zwei Tagen froh und warm in Neuendorf. Der Jahreswechsel hier war wie erhofft unspektakulär. Einmal um acht und einmal um neun kamen Leute und böllerten jeweils zehn Minuten. Um elf legte ich mich herrlich müde ins Bett, wachte um zwölf kurz auf von Böllern und Raketen, die aber alle weit weg waren. Neujahrsspaziergang dann bis zum Gellen, wo der verbotene Teil der Insel anfängt (Naturschutzgebiet). Auf der Boddenseite hin bis zur Stelle, wo man anlanden kann, wenn man in Klimphores Bucht vor Anker liegt. Heute sind hier keine Boote, dafür unglaublich viele Schwäne, was toll aussieht vor dem diesig-grauen Hintergrund. Die Landschaft ist überhaupt ganz gedeckt, matte Braun- und Grautöne, was sehr schön aussieht. Ich gehe auf der Seeseite zurück zum Hafen. Genieße den Wind, der von schräg hinten kommt, so, wie er auch gekommen wäre, wenn ich die Umrundung gemacht hätte. Aber das bereitet mir gar keine hätte-wäre-wenn-Gefühle, sondern ist einfach nur eine lustige Parallele. Ich schaue zwischendurch aufs bedeckte Meer und freue mich an den Wellen, und genieße es, am Meer zu sein. Denn das musst du dir vorstellen, ich bin da einfach so am Meer und das ist wunderbar. Auf halbem Weg steht ein Schwan an einer Buhne, allein, blickt hinaus ins Offene, ohne ersichtlichen Grund, den Wind von vorne. So beginnt also das neue Jahr. Und morgen ist schon gleich der erste Segeltag.

01. Jan. 2017

Januar
Mo Di Mi Do Fr Sa So
           
         
2017
Monat
Jan

neue sendungen

Reisebücher

Herbstsonne
Storm Chaser (wider Willen)
Die Ostsee stirbt
Lesetip
aimé jetzt mit videoüberwachung - galore!



ozeansegeln.de