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Diesig
Das Jahr ging diesig zu Ende und hat diesig angefangen. Seit zwei Tagen bin
ich in Neuendorf auf Hiddensee. Der Wind weht mit fünf bis sechs Beaufort aus
Südwest. Eigentlich perfekt, um außenrum zurück nach Greifswald zu segeln.
Leider war es gestern und heute so diesig, dass ich nicht alleine durch die
schmalen Boddenfahrwasser navigieren wollte. Teilweise war nicht einmal das
Tonnenpaar kurz vor der Hafeneinfahrt zu sehen. Und um in den Fahrwassern den
Kurs zu halten, braucht man wenigstens Sicht auf zwei Tonnenpaare oder sogar
ein Stück Land hinter der Tonne, wegen der Deckpeilung. Ohne Deckpeilung
vertreibt man schnell, und da hilft es auch nichts, wenn man das nächste
Tonnenpaar sieht, man braucht den Tonnenstrich. Der Seewetterbericht hatte zur
diesig schlechten Sicht auch Nebelfelder angekündigt. Kurz: Ich bin gestern
und heute wegen des unsichtigen Wetters im Hafen geblieben. Und weil für
morgen nördliche Winde und Sonnenschein, für übermorgen aber wieder Sturm
angekündigt ist, fahre ich morgen in einem Rutsch zurück in den Heimathafen.
Die volle Wahrheit ist, dass ich nach den kalten Tagen unterwegs und den
kalten Nächten ohne Strom, also ohne Heizlüfter, nur mit der Bordheizung, gestern auch zu erschöpft war, um bei fünf
bis sechs Beaufort alleine loszufahren.
Die Nacht vor Anker im Strelasund war besonders kalt: Minusgrade. Kam mit dem
Wetter, der Tag war herrlich sonnig gewesen, Hochdruckwetter, und im Hochdruck
ist die Luft eben kalt. Und klar. Als ich abends nochmal an Deck ging, war der
Sternenhimmel unglaublich. So viele Sterne. Ein paar konnte ich erkennen.
Orion, die Pleiaden. Und die Milchstraße war deutlich zu sehen. Wahnsinn. Ich
hatte vergessen, wie großartig es ist, unter einem solchen Himmel zu stehen.
In der Stadt sieht man die Sterne nicht. Jedenfalls sieht man nur die
hellsten, und das sind die wenigsten. Wenn ich bald wieder raus will mit dem
Boot, dann auch wegen diesem Himmel.
Richtig lang konnte ich den allerdings nicht genießen, die Kälte trieb
mich wieder rein. Die Nacht war kalt, der Wind war im Rigg gut zu hören, hielt
sich aber an die vier bis fünf Beaufort aus den Grib-Daten. Ich hatte nach dem
ersten Manöver kurz gedacht, dass ich zuwenig Kette gegeben habe. Und für
stärkeren Wind hätte es auch in der Tat nicht gereicht, verriet der Blick in
die Ankergeschirrdiagramme fürs Boot, aber für den erwartbaren Wind wars okay.
Ich schlief ruhig und fest.
Am nächsten Morgen machte ich die Heizung nicht an, stieg gleich aus dem
Bett, weil bis zur Brücke noch ein paar Meilen zu machen waren. Kaffee brachte
mich hoch. Für diese Situationen lohnt es sich, sonst auf Kaffee eher zu
verzichten. Das Koffein kickt einfach besser, wenn ich dann mal welchen
trinke. Oben an Deck war alles komplett vereist. Obwohl die Sonne schon über
den Horizont gestiegen war, schmolz die Eisschicht nicht ab. Warten ging
nicht. Ich ging vorsichtig zum Bug, immer darauf achtend, die Füße so zu
setzen, dass sie zur abschüssigen Seite des Decks einen Halt haben. Das ging
erstaunlich gut. Klar, rutschig, vielleicht ein bisschen so wie verschneite
Steinstufen, die schon so ausgetreten sind, dass die Stufenfläche leicht
abschüssig ist. Aber auch so eine Treppe kommt man, mit etwas Vorsicht,
hinunter.
Auftakeln dauerte etwas länger, aber dann war das Vorsegel angeschlagen,
das Großsegel klar, und ich holte den Anker auf. Es kam der übliche
Boddenschmodder mit hoch, glücklicherweise erst am Ende, und dafür war es wohl
auch gut, dass ich nicht so viel Kette gesteckt hatte. Eingegraben hatte sich
der Anker jedenfalls, es hingen noch ordentliche Modderbrocken, mit Muscheln,
an der Fluke.
Als der Anker schließlich verstaut war, setzte ich erst das Vorsegel, dann
das Großsegel. Die Sonne schien inzwischen schon etwas wärmer, das Eis schmolz
langsam. Ich hatte das kleine Starkwindvorsegel gesetzt, das Großsegel im
ersten Reff. Damit erreichten wir erstmal nur vier Knoten. Aber als sich
hinter der Hochspannungsleitung der Sund nach Westen wandte, frischte der Wind
ordentlich auf, Aimé legte sich schön auf die Seite und zog heftig an. Als wir
wieder abfallen konnten und Kurs auf die Brücke nahmen, blieb der Wind und
schob und mit sechseinhalt Knoten durchs Fahrwasser. Ankunft deshalb eine
dreiviertel Stunde zu früh. Mir wars recht. Ich barg die Segel und aß den
Frühstücksbrei, den ich vor Abfahrt vorbereitet, aber nicht mehr eingenommen
hatte. Bin nicht so der rustikale Frühstücker. Pain au chocolat und Café
für den ersten Start. Weil ich keine Croissants dabei hatte (wie ginge das
auch? Ich müsste eine ganze französische Bäckerei dabei haben, um mir diesen
Wunsch erfüllen zu können. Deshalb geht die nächste Fahrt definitiv nach
Frankreich.), weil ich also keine Croissants dabei hatte, stieg ich um auf
industriell gefertigte Schokoladentörtchen, in Plastik verpackt. Kein
Vergleich? Kein Vergleich. Aber Frühstück ist Frühstück, irgendwas muss es
halt geben.
Weil ich alleine vor der Brücke dümpelte, ging ich unter Deck, um die weitere
Route nochmal durchzugehen und auf dem Plotter die Strecke nachzumessen. Und
um ein Wenig aus dem Wind zu kommen und mich aufzuwärmen. Als ich wieder an
Deck kam, war da plötzlich noch eine andere Yacht. Wo waren die so schnell
hergekommen? Segel schon eingepackt, vielleicht aus dem hiesigen Yachthafen.
Auf dem Weg durch den Strelasund hatte ich jedenfalls nichts gesehen, auch
nicht in der Ferne. Eine andere Yacht wäre mir aufgefallen. Abgesehen von
einem kleinen Bötchen mit zwei hartgesottenen Anglern war auf dem Sund nichts
los gewesen.
Aimé treibt quer zum Wind. Das andere Boot fährt Kreise. Merkwürdigerweise
ziemlich in meiner Nähe, obwohl eigentlich Platz wäre, es ist ja außer uns
niemand da. Ich versuche Blickkontakt aufzunehmen, aber man registriert mich
nicht. Na gut.
Bald geht die Brücke auf, und nach der Durchfahrt biege ich gleich ab, wieder
raus auf den Sund, während die andere Yacht in den Hafen fährt. Ich setze
wieder Segel und mache mich auf den Weg. Wind von der Seite, Sonne auch, Boot
fährt wie von allein, ich bin gelassen und froh. Öffne die Luken, damit die
trockene Luft ein bisschen durchs Schiff ziehen kann. An der
Fahrwasserabzweigung in Richtung Barhöft hole ich mir die Seekarte nach oben.
Bald geht es los mit den engen Fahrwassern. Ich kenne die Gegend schon seit
vielen, vielen Jahren. Wie oft bin ich hier schon lang gesegelt? Das erste Mal
vor mehr als zwanzig Jahren (allerdings nicht an genau dieser Stelle, sondern
damals noch ein Stück weiter nördlich, von Breege aus nach Hiddensee).
Der Wind ist etwas weniger geworden, aber wir machen mit vier bis fünf Knoten
auch mit den gerefften Segeln ausreichend Fahrt, um noch vor Einbruch der
Dunkelheit in Neuendorf anzukommen. Von hinten kommt ein Segler auf. Offenbar
hat man in Stralsund nur jemanden an Bord genommen und segelt jetzt weiter.
Während wir mit Starkwindbesegelung im Gemütlichkeitsmodus laufen, kommt die
Yacht von hinten unter Vollzeug schnell heran. Im schmalen Fahrwasser kommen
sich die beiden Boote recht nah, und wir wechseln ein paar Worte. Drüben ist
man ausgelassen, ich zähle vier Männer und eine Frau, es wird gescherzt. Nach
Kloster wollen sie, da sei ab dreizehn Uhr am nächsten Tag Silvesterparty. Wo
wir hin wollten? Ich bin doch allein, geht es mir durch den Kopf. Rund Rügen,
sage ich. Was zu dem Zeitpunkt auch noch mein Plan, und zumindest mein Wunsch
war. Aber auch wenn ich in Neuendorf bleibe, weil das Wetter sich
verschlechtert, ist es eine gute Nachricht, dass die große Party am anderen
Ende der Insel stattfindet.
Ein wenig später frischt der Wind böig auf. Ich sehe es in Luv schon dunkel
auf uns zukommen. Aber mit der wenigen Segelfläche haben wir gute Reserven.
Nicht so die andere Yacht, die sich ordentlich auf die Seite legt, dann just
an der Stelle, an der das von der Tiefe her auch möglich ist, aus dem
Fahrwasser ausschert und voll in den Wind schießt, um dann wieder abzufallen
und mit viel Lage weiter zu segeln.
Als wir den Schaproder Bodden erreichen, verlasse ich das Fahrwasser. Hier ist
es tief genug. Kurz überlege ich, ob ich doch in Klimphores Bucht ankern soll.
Aber dann überwiegt mein Bedürfnis nach Landstrom und der Wunsch, nach der
letzten Ankernacht mal wieder einen Fuß auf festes Land zu setzen und einen
Spaziergang zu machen. Ein Stück neben dem Neuendorfer Fahrwasser berge ich
die Segel und bereite Leinen und Fender fürs Anlegen vor. Ich will längsseits
an die Mole, direkt beim Kran, im kleinen Fischerhafen. Dort weht der Wind
jetzt, bei Südwest schräg ablandig, was für mein Anlegemanöver hilfreich ist.
Wenns beim ersten Mal nicht funktioniert, kann ich einfach nochmal anfahren.
Und das Boot liegt später gut in den Leinen. Außerdem, und das ist eigentlich
das wichtigste, steht dort direkt das kleine Häuschen der Neuendorfer
Fischereigenossenschaft. An diesem Häuschen haben die Fischer ihre
Landstromsteckdosen, und ich hoffe, dass da auch jetzt im Winter Strom drauf
ist, selbst wenn im Yachthafen alles abgeschaltet ist.
Als ich fertig bin mit den Vorbereitungen, biegen zwei Fähren aus dem
Hauptfahrwasser ab und nehmen Kurs auf den Hafen. Ich lasse ihnen gerne den
Vortritt. Dann tuckern wir langsam zum Hafen. Die erste Fähre fährt schon
wieder raus, als wir ein Stück vor der Einfahrt sind. Der Kapitän grüßt
freundlich, und ich fühle mich ehrlich ernst genommen, weil man sonst, während
der Saison, von den Fährleuten nicht gegrüßt wird. Verständlicherweise, weil
die sonst aus dem Grüßen gar nicht mehr heraus kämen.
Weil die zweite Fähre am Kai vor dem Fischerhafen liegt, fahre ich erstmal
in den Yachthafen und warte kurz. Überlege, ob ich nicht doch in eine Box
fahren soll. Allein in eine Box. Hab ich schon gemacht. Allerdings nicht bei
soviel Wind. Müsste ich mit Mittelleinen machen. Aber auch dann nicht ganz
einfach. Und vor allem das rauskommen dann, zumal bei Seitenwind, wenn der
Wind dreht. Aber ich bin ja eine Segelyacht, und am Fischerhafen steht ein
großes neues Schild, das sagt: Hier nicht für Sportboote! Dann legt die Fähre
ab. Und ich bin zwar ein Sportboot, aber ich bin auch allein und es ist
Winter, und deshalb fahr ich um die Ecke wie geplant. Mache das Manöver
minimal unaufmerksam und komme ein Stück zu weit weg vom Steg zum Stehen.
Versuche, das große Auge über den Poller zu werfen, klappt aber nicht. Ein
freundlicher Spaziergänger nimmt die Leine an und legt das Auge über den
Poller. Ich belege schnell das andere Ende. Aimé ist schon gute fünf Meter vom
Steg weggetrieben und hängt jetzt nur an der Mittelklampe. Mit Vorwärtsgas
ziehe ich das Boot langsam an die Mole. Der nette Mann hilft mir noch mit Vor-
und Achterleinen. Und fragt dann, während ich noch mit der Vorspring
beschäftigt bin, ob ich Fisch dabei habe. Als ganz ernst gemeinte Frage. Ich
bin baff, aber klar, hier ist der Fischerhafen, hier löschen die Fischer ihre
Ladung, wenn sie welche haben. Fisch hab ich nur in Dosen dabei, ist die
Antwort, die mir erst später einfällt.
Und nun liege ich also seit zwei Tagen froh und warm in Neuendorf. Der
Jahreswechsel hier war wie erhofft unspektakulär. Einmal um acht und einmal um
neun kamen Leute und böllerten jeweils zehn Minuten. Um elf legte ich mich
herrlich müde ins Bett, wachte um zwölf kurz auf von Böllern und Raketen, die
aber alle weit weg waren. Neujahrsspaziergang dann bis zum Gellen, wo der
verbotene Teil der Insel anfängt (Naturschutzgebiet). Auf der Boddenseite hin
bis zur Stelle, wo man anlanden kann, wenn man in Klimphores Bucht vor Anker
liegt. Heute sind hier keine Boote, dafür unglaublich viele Schwäne, was toll
aussieht vor dem diesig-grauen Hintergrund. Die Landschaft ist überhaupt ganz
gedeckt, matte Braun- und Grautöne, was sehr schön aussieht. Ich gehe auf der
Seeseite zurück zum Hafen. Genieße den Wind, der von schräg hinten kommt, so,
wie er auch gekommen wäre, wenn ich die Umrundung gemacht hätte. Aber das
bereitet mir gar keine hätte-wäre-wenn-Gefühle, sondern ist einfach nur eine
lustige Parallele. Ich schaue zwischendurch aufs bedeckte Meer und freue mich
an den Wellen, und genieße es, am Meer zu sein. Denn das musst du dir
vorstellen, ich bin da einfach so am Meer und das ist wunderbar. Auf halbem
Weg steht ein Schwan an einer Buhne, allein, blickt hinaus ins Offene, ohne
ersichtlichen Grund, den Wind von vorne. So beginnt also das neue Jahr. Und
morgen ist schon gleich der erste Segeltag.
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