Ozeansegeln. Reiseaufzeichnungen

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Am frühen Morgen, als ich aufwache, ist es draußen noch dunkel. Es ist sieben Uhr, Sonnenaufgang ist um halb neun. Ich schalte die Heizung an und lege mich nochmal hin. Seit ich extra für diese Reise einen Kohlenmonoxidwarner besorgt habe, traue ich mich, die Heizung auch laufen zu lassen, wenn ich in der Koje liege. Allerdings sollte ich wahrscheinlich den Warner nicht unter einem Haufen schmutziger Wäsche vergraben..
Um acht wache ich zum zweiten Mal auf. Geplant ist, dass ich um neun Uhr ablege, damit ich rechtzeitig um zwanzig nach drei an der Brücke in Stralsund bin. Ich freu mich auf einen Drink und was warmes zu essen in der älstesten Hafenkneipe der Welt. Und der Wind weht aus Südwest, das bedeutet einmal quer über den Greifswalder Bodden kreuzen, dann am Wind durch den östlichen Strelasund, und durch die Schlangenlinien nochmal kurz kreuzen. Das braucht Zeit.
Um neun Uhr wache ich zum dritten Mal auf. Bin gar nicht überrascht. Will einfach nur liegenbleiben. Überlege kurz, ob ich das Treffen in Stralsund woanders hin verlegen kann, nach Sassnitz, oder nach Greifswald, einen Ort jedenfalls, wo ich erst morgen hinfahren kann. Aber was soll's. Ich bin schon oft durch die Dunkelheit gesegelt, und die Gegend hier kenne ich gut. Jetzt im Winter ist auch niemand sonst unterwegs, und Fischernetze habe ich auch noch keine gesehen. Die Brücke geht um zwanzig nach fünf nochmal auf. Also reicht es doch, wenn ich um elf ablege.
Um elf Uhr -- wache ich nicht zum vierten Mal auf, sondern lege tatsächlich ab, nachdem ich freundlich die angebotene Hilfe abgelehnt habe. Was mit einem Satz quittiert wurde, den ich immer noch nicht ganz verstanden habe: "Man sollte jetzt auch nicht ins Wasser fallen." Wie ist das gemeint? Dass die helfende Person Gefahr läuft, ins Wasser zu fallen? Dass ich vielleicht ins Wasser falle, wenn jemand mir hilft? Oder wirklich als ganz allgemeiner Satz, dass man in wenige Grad warmes Wasser besser nicht fallen sollte, weil die lebensnotwendigen Organe nach weniger als zehn Minuten ihren Geist aufgeben, vorausgesetzt man hat eine Rettungsweste an und ist nicht vorher schon ertrunken, weil die Muskeln sofort krampfen?
Meine Überlegung zum Liegeplatz hat sich jedenfalls gelohnt. Der Wind drückt das Boot weg vom Steg. Ich starte den Motor, lege das Boot in die Vorspring. Es braucht schon ordentlich Druck vom Motor, um sich am Steg zu halten. Dann nehme ich die restlichen Leinen ab, steige an Bord, nehme einmal Gas weg, löse die Vorspring und los geht's. Fender und Leinen verstaue ich, während wir noch im Hafenbecken treiben.
Es weht in Böen schon recht ordentlich, deshalb habe ich vorhin am Steg die Starkwindfock angeschlagen und das Großsegel ins zweite Reff gesetzt. Angesagt sind vier Beaufort, zunehmend fünf bis sechs. Lieber etwas langsamer starten und einen Segelwechsel sparen. Ausreffen geht außerdem recht schnell. Aber schon auf dem Weg zum Fahrwasserausgang (ich fahre vom Hafen bis zum Ausgang unter Motor, weil der Wind direkt von vorne kommt und an einer Stelle am Ausgang zum Bodden recht wenig Platz zum Kreuzen ist) kommen Zweifel. Besser wäre wohl das größere Amwindsegel gewesen. Ich setze trotzdem das kleine Vorsegel und setze das Groß direkt ins erste Reff, anstatt ins zweite. Damit machen wir ausreichend Fahrt, vier bis fünf Knoten. Ich bin allein und es ist okay, eher defensiv zu fahren. Blöd nur, dass die Brückenwärter darauf keine Rücksicht nehmen. Es ist 13 Uhr, als ich die erste Wende mache. Noch etwa neun Meilen direkt gegenan liegen vor mir, was etwa 13-14 Meilen gesegelte Strecke bedeutet. Danach nochmal gut zehn seemeilen bis Stralsund. Am Morgen habe ich etwas über optimism bias gelesen. Demnach sieht mensch die Zukunft meist eher positiv, und Zeichen, die auf Besserung deuten, werden stärker gewichtet als solche, die Probleme ankündigen. Besonders vorteilhaft ist dieser Optimismus nicht. Jedenfalls nicht für mich, mitten auf dem Bodden, bei der Kopfjonglage mit Optionen und einem kürzer werdenden Zeitbudget.
Ich versuche also realistisch zu werden. Wind kommt von vorne, wir fahren eher vier als fünf Knoten, ich bin fit, aber kann mich nicht ewig warmhalten, zumal die Kälte auf Amwindkurs nochmal stärker reinhaut als auf anderen Kursen. Zwei Möglichkeiten bieten sich an: zurück nach Wieck fahren und entweder vor dem Hafen ankern oder in den Hafen gehen. Nach Wieck sind es etwa zehn Seemeilen, die wir am Wind anliegen können. Zweieinhalb Stunden, bis Sonnenuntergang zu schaffen. Zweite Option: In den Strelasund einfahren und sehen, wie weit ich komme. Die erste Anlaufmöglichkeit in dieser Richtung ist Stahlbrode, danach gibt es noch eine Bucht, die zwar sehr weitläufig ist, bei Südwestwind kann man dort aber durchaus gut ankern.
Entschieden werden muss das erst nach der nächsten Wende. Also schalte ich den Autopiloten aus, um selbst eine Weile zu steuern und etwas ruhiger zu werden. Was soll schon passieren. Im schlimmsten Fall wird es dunkel, der Wind frischt auf, der Motor springt nicht an, aber was solls? Ich kenn mich doch aus hier im Revier!
Ich werde etwas ruhiger, nachdem ich mir konkret vorgestellt habe, dass es dunkel wird und was dann zu tun ist. Lichter einschalten, Navigation häufiger checken, konzentriert weiterfahren bis zum nächstmöglichen Ziel. Als ich mich schon freue über den schönen Tag -- denn es ist ein wunderbarer Segeltag, nur schade, dass er so kurz ist -- und den guten Plan, bis Sonnenuntergang wenigstens Stahlbrode anzulaufen, wird der Wind deutlich weniger. You gotta be kidding me. Aber in Luv färbt sich das Wasser schon wieder dunkler und nach einer Viertelstunde legt sich Aimé wieder auf die Seite, nimmt Fahrt auf und weiter geht es. Am Osteingang Strelasund muss ich sogar das Großsegel ins zweite Reff setzen. Wie üblich weht es hier mit einer guten Windstärke heftiger als auf dem Greifswalder Bodden. Macht aber nichts, bringt uns gut voran. Nach zwei weiteren kurzen Schlägen biegen wir in den Strelasund ein. Der Wind hat etwas weiter südwestlich gedreht, sodass wir Stahlbrode gut anliegen können. Und mit einem Schrick in den Schoten beschleunigt das Boot auf konstant sechs Knoten. Yes. Die Sonne nähert sich dem Horizont. In der Planungsphase am früheren Nachmittag war ich unsicher, ob die Sonne nicht vielleicht erst um halb fünf untergeht. Irgendwie hatte ich das doch in den Grib-Daten gelesen, 15.25 UTC, als kurz vor halb fünf hiesige Zeit. Aber das wäre schon sehr spät, gestern war es schließlich um fünf stockfinster. Weil ich zwar ein Telefonsignal habe, aber keine Daten empfangen kann, schreibe ich schnell eine Nachricht an A., der sowas immer gleich schnell nachschauen kann. 15.51 MET ist die Sonne weg.
Aber jetzt ist das kein Problem mehr, die Ankunft ist absehbar, mit dem guten Speed sind wir in einer Stunde da, etwa zwanzig Minuten nach Sonnenuntergang. Ich stelle mich entspannt ins Cockpit, das Boot fährt und ich schaue den Wellen zu, den Wolken, halte mein Gesicht in die Sonne. Der Himmel hat aufgeklart, nur in der Ferne hängen ein paar Schleierwolken, die später, als die Sonne weg ist, noch lange ihr rotes Licht reflektieren.
Um kurz nach vier passieren wir Stahlbrode. Hier wollte ich immer mal einen Stop machen, einfach, um den Hafen zu sehen. Aber vielleicht muss das auch nicht heute sein. Zwei Böller, die irgendwo an Land explodieren, erleichtern die Entscheidung. Bis zur Ankerbucht sind es nocht etwa zwei Seemeilen. So dicht unter Land segelt das Boot zwar nicht mehr so schnell, aber in einer halben Stunde sollten wir das schaffen, und solange, schätze ich, leuchtet uns die Dämmerung noch mit einem Rest Licht.
Um kurz nach halb fünf fällt der Anker auf drei Metern Tiefe. Leider sehr weit weg vom Ufer, wie ich später auf dem Kartenplotter nachmesse. Da war ich wohl etwas zu vorsichtig. Vor drei Jahren sind wir im Strelasund mal auf einen Stein gefahren, seitdem bin ich, was die Ufer hier angeht, etwas vorbelastet. Deshalb liegen wir jetzt gut vierhundert Meter vom Ufer weg. Was aber nicht schlimm ist, flach genug zum guten Ankern ist es trotzdem. Und immerhin sind wir näher am Ufer als an der Fahrrinne. Abenteuerlich ist es dennoch. Vor Anker, im Winter, bei winterlichem Südwestwind mit vier bis fünf Beaufort. Und vor einer Woche etwa saß ich noch im gut geheizten Büro am Schreibtisch, und lag in meinem warmen Bett in einer warmen Wohnung, saß auf einem blauen Sofa, lief durch die Straßen mit festem Untergrund. Hier? Nur Wasser, Dunkelheit, Wind, der in den Wanten pfeift, draußen beim Blick nach oben die Sterne so hell, dass die Milchstraße gut zu erkennen ist, das Gluckern der Wellen am Rumpf, wenn das Boot sich dreht, das Rauschen der Heizung und der sirrende Ton des Windgenerators, der die Verbraucherbatterie laden muss, weil ich das Ankermanöver ohne Motor gemacht habe. Es geht schon. So geht es schon.
Später dann, nach dem dringend notwendigen Essen, E-Mail vom Hafenamt Greifswald: Die Brücke in Wieck öffnet wieder ab dem 2.1. Ich soll mich anmelden, wenn ich durch will. Das ist doch absehbar. Denn das ist noch eine Erkenntnis (die ich schon wusste, aber, eben, optimism bias): Segeln im Winter ist unglaublich anstrengend. Ich freu mich auf den Jahreswechsel an Bord, aber danach gehts zurück in die Box und das Boot wird wirklich eingewintert.

29. Dec. 2016

Im Winter segeln ist saukalt
Anfangs hatte ich große Pläne für diese Tour, zwei Wochen wollte ich unterwegs sein, bis Gotland segeln und wieder zurück, durch die Nacht, durch Eis und Sturm, und zwischendurch immer mal davon schreiben und am Ende einen tollen Erfahrungsbericht zum Wintersegeln zusammenstellen. Die lange Fahrt hatte sich schon erledigt, bevor es losging, aber das ist normal: Bis zum Ablegen gibt es immer mehrere Downsizings. Rund Rügen wäre jetzt toll, muss aber nicht. Ich bin unterwegs, das ist alles. Und eigentlich sind alle wichtigen Daten für den Erfahrungsbericht schon gesammelt:

Im Winter

  • gibt es Stürme mit Orkanböen, die selbst im Hafen schon sehr unangenehm sind
  • haben die Häfen kein Frischwasser und keinen Strom (ausgenommen Wieck: da gabs Strom)
  • friert Wasser zu Eis, auch an Deck
  • ist segeln vor allem eins: saukalt
Dabei war es von den Temperaturen her und auch sonst ziemlich mild. Fünf Grad über Null, bedeckt, schwacher Wind aus Nordwest. Aufstehen war trotzdem, wie jeden Morgen, schwer und hat etwa eine Stunde gedauert. Als die Sonne um halb neun über den Horizont kam, schob ich erst die Beine und dann den Rest aus dem Bett nach draußen. Mit Landstromglück den Wasserkocher in Betrieb gesetzt, Kaffee in wenigen Minuten, dann Heizlüfter an, fast komfortabel. Zum Frühstück kein Müsli wie geplant, sondern zwei Stück Marzipanstollen, weil die Fahrt nur quer übern Bodden, fünfzehn Seemeilen, kein Problem.
Nach dem Frühstück alles seefest verstauen, wer weiß was da kommt. Angesagt ist schwacher Wind aus Nordwest, 15 Knoten in den Böen. Trotzdem habe ich mir angewöhnt, immer alles so zu verstauen, dass es auch dreißig Knoten in Böen und hohe Wellen geben kann. Nicht ganz sturmfest, aber bereit für Starkwind.
Die Batterien sind gut aufgeladen, der Motor sollte starten. Ich bin gespannt. Erstmal gehe ich an Deck, um die Segelpersenning einzupacken und das Vorsegel anzuschlagen. Und traue meinen Augen nicht. Das Vorschiff ist komplett überfroren, nur ganz an der Seite, wo schon ein wenig Sonne hinkommt, verlaufen sich ein paar Wassertropfen. Damn. Daran hatte ich nicht gedacht. Aber klar. Bodenfrost = Deckfrost. Weil das Deck an den Seiten geneigt ist, kann ich nur dort meinen Fuß hinsetzen, wo er seitlich von einem Beschlag oder vom Süll gehalten wird. Ich balanciere vorsichtig nach vorne, befestige den Karabiner fürs Vorsegel. Ziehe die Schoten ein, die noch unter Deck gelagert waren. Packe erstmal die Großsegelpersenning weg, die noch gefrostet ist. Hole dann das Vorsegel an Deck und schlage es an, bringe die abgespannten Fallen und die Dirk an den Mast. Fertig. Vier Monate nach der letzten Segelfahrt ist das Boot wieder fahrbereit. Das denke ich glücklicherweise nicht in der Situation selbst, bin viel zu aufgeregt. Das fällt mir erst jetzt beim Aufschreiben *after the fact* ein. Die Reise nach Norwegen hat im Vergleich zu dieser Bodden-Winter-Tour ja schier epische Ausmaße.
Ich starte den Motor. Der Anlasser muss länger drehen als vom Sommer gewohnt, aber der Motor springt an. Ich bin erleichtert. Hoffe dabei, dass diese lange Startphase nicht die Batterie wieder ausgelaugt hat und das nachher unterwegs Probleme macht. Dann steige ich an Land, mache alle Leinen los, schiebe das Boot ein wenig vom Steg weg und steige dabei mit ein. Die Sonne hat inzwischen den Frost getaut, ich kann mich wieder gut auf Deck bewegen und packe zügig Fender und Leinen weg, nehme Kurs auf die Hafenausfahrt und lege den Vorwärtsgang ein.
Der Greifswalder Bodden zeigt sich in abgetönten Pastellfarben. Der Himmel ist bedeckt, das Licht mehr ein Zwielicht, der Ausleger der Hafenmole, die aufgeschütteten Steine an Steuerbord, die Fahrwassertonnen wirken wie weichgezeichnet, ohne klare Konturen. Ganz leicht kräuselt sich die Wasseroberfläche, der Wind weht nur schwach. Ich drehe den Bug nach Luv, stabilisiere den Kurs fast gegen den Wind und setze die Segel. Das Boot neigt sich leicht zur Seite, als ich abfalle und die Schoten anhole. Wir nehmen Fahrt auf, ich stoppe den Motor, Wasser gluckert am Rumpf. Ein herrlicher Moment.
Ich steuere von Hand. Will den Autopilot noch nicht einschalten. Wir lassen die Ecke bei Ludwigsburg an Steuerbord, segeln parallel zur Fahrrinne. Auf Höhe der beiden alten Plattformen kommt uns ein Schiff der Bundespolizei entgegen. Ich denke darüber nach, dass man dort mit dem Fernglas mir wahrscheinlich direkt ins Gesicht schaut. Mache ein grimmiges Gesicht. Und bin etwas verwirrt über diese Mischung aus Angst vor Überwachung und narzisstischem Geltungsdrang. Hoffentlich haben sie mich gesehen! Und gedacht: Mensch, das ist ja mutig, toll, abenteuerlich, um die Zeit mit dem Segelboot rauszufahren. Das ist sicher ein sehr erfahrener Skipper etc. pp. (Wahrscheinlicher ist: Meene Jüte, der kann 'n Kopp o' ni voll krien, wa?)
Der Moment geht vorbei, ich schaue durch die Gegend, suche nach der Ruhe, die ich doch hier draußen finden wollte. Bin aber noch aufgeregt. Was, wenn der Motor streikt? Wenn der Wind auffrischt? Wenn es anfängt, zu schneien? Für den Fall, dass der Motor streikt, muss ich eben unter Segeln irgendwo rein. Nach Wieck oder nach Gager, je nachdem, was in dem Moment näher ist. Denn wir segeln langsam. Machen im Schnitt nur drei Knoten. Weil die Tage sehr kurz sind, ich aber ungern im Dunkeln ankommen will, heißt das, dass wir die drei Knoten nicht unterschreiten sollten. Falls doch, dann müssen wir motoren. Und wenn dann der Motor nicht anspringt - Plan B.
Zwischendurch lockern sich die Wolken direkt über mir etwas auf und ich kann den blauen Himmel sehen. Die Wolkendecke liegt sehr tief, und über Land sinkt sie noch tiefer, sodass die Küste zum Teil im wolkigen Dunst verschwindet. Von Backbord schiebt sich langsam ein Frachter an uns vorbei. Laut AIS ist er an Silvester in Hull, England. Er passiert mit großem Abstand.
Kurz vor der Untiefe Groß-Stubber schralt der Wind. Ich falle ab und fluche, ein wenig fassungslos. You gotta be kidding me. Aber der Wetterbericht! Zehn Minuten später dreht der Wind wieder zurück, wir sind wieder en route. Die Untiefe lassen wir gut an Steuerbord. Der Wind zieht wieder etwas an und beschleunigt uns auf vier Knoten. Den Autopiloten habe ich schon vor einer Weile eingeschaltet. Am Navigationstisch ertappe ich mich dabei, dass ich Dinge überlege, die nicht übelegt werden müssen, jedenfalls nicht jetzt, um noch ein wenig unten zu bleiben, anstatt oben nach den Segeln zu sehen. Außer den Berufsfahrern begegnen mir keine anderen Boote, Kollisionsgefahr ist also eher gering. Fischernetze sehe ich auch keine. Man gönnt den Fischen auch ein paar Tage Weihnachtsferien. Deshalb kann ich mir ein paar Minuten mehr unter Deck eigentlich auch leisten. Dass der Greifswalder Bodden so leer ist habe ich einfach noch nicht erlebt, deshalb ist mein Achtsamkeitslevel unangemessen erhöht.
Kurz hinter der Ansteuerungstonne Zicker schläft der Wind ein. Wir treiben mehr als wir fahren. Aber ich will den Motor noch nicht starten. Einmal wegen der Sorge, dass er nicht anspringt (eine kontraintuitive Begründung), vor allem aber, weil jetzt, in der Stille, von überall her die See- und Schwimmvögel zu hören sind. Um uns herum, in etwas Entfernung, sind mehrere Gruppen und Schwärme, und alle rufen und singen sie in einem fort. Die Muster sind recht einfach, jedenfalls erkennbar. Immer wieder aber werden einzelne Töne variiert, oder eine arme Vogelkehle trifft diesen hohen Abschlusslaut nicht richtig. Irre ist das Sounderlebnis, completely 3D.
Schließlich starte ich doch den Motor. Er startet ohne Probleme, deutlich schneller als noch am Morgen. Vielleicht weil es jetzt am Tag etwas wärmer ist? Ich berge die Segel und nehme Kurs auf das Fahrwasser in Richtung Gager. Ich kenne die Strecke und muss nur einmal in die Karte schauen, um mich zu vergewissern. Im Moment ist auch etwas mehr Wasser im Bodden, der Wasserspiegel ist etwas zwanzig Zentimeter über Normalnull, sodass die heikle Stelle mit 1,8 Metern für uns sogar befahrbar wäre.
Bis zum Hafen mache ich mir Gedanken, wie ich das Boot am günstigsten platziere, damit ich morgen beim erwarteten Südwestwind einfach ablegen kann. Entweder längsseits an die Mole, oder längsseits an einen der Schwimmstege, auf die Ostseite, und rückwärts anfahren, damit ich morgen vorwärts losfahren kann. Weil es im Hafen windstill ist, wähle ich die zweite Option. Die Schwimmstege sind aus Holz, und bei der Mole hätte ich Probleme mit den Fendern. Also rückwärts angefahren, dann aufgestoppt, ein kleines Stück vorwärts, aufstoppen, das Auge der Leine vom Boot aus über den Poller geworfen, festgemacht, Vorwärtsgang, Boot liegt stabil. Leinen fest.
Alleine ist das alles wirklich mehr Arbeit als zu zweit, denke ich beim Einpacken der Segel. Muss ich halt mehr Zeit einplanen. Downsizing.
Und jetzt? Jetzt läuft die Heizung. Sie hat etwa eineinhalb Stunden gebraucht, um es hier angenehm warm zu machen. Angenehm warm zumindest mit langen Unterhosen, zwei Pullovern und dicken Wollsocken an.

28. Dec. 2016

Wintersegeln (vier Monate später)
Heute nachmittag hat der Sturm endlich nachgelassen. Jetzt ist das Wasser ruhig, Aimé schaukelt ganz leicht in den Spuren einer Dünung, die hier im Hafen zwischen den Molen reflektiert werden. Die Nacht war anstrengend, obwohl wir im Hafen liegen. Die Sturmböen drückten das Boot weit über, ließen es zum Teil heftig in die Leinen einrucken. Manchmal, wenn die Böen im richtigen Abstand kamen, schaukelte sich das Boot richtig auf. Ich lag achtern in der Koje, konnte kaum schlafen, wachte oft schreckhaft auf, atmete unruhig. Gegen halb fünf Uhr morgens dann ein lauter Schlag, aber nicht von draußen, aus dem Salon, irgendwas ist runtergefallen. Ich gehe nach vorne und schau nach. Das Geschirr, das noch neben der Spüle stand, ist zusammen mit dem Spülmittel mit Karacho gegen die Wand gerutscht. Ich verstaue alles, auch die Sachen, die noch auf dem Tisch stehen, schön seefest, damit bei der Krängung nicht doch noch irgendwas runterfällt und kaputt geht. Im Hafen. Was habich mir nur vorgestellt als ich gesagt habe: Wintersegeln. Aber der Reihe nach.
Vor vier Monaten sind wir aus Norwegen wieder zuhause angekommen. Seitdem gab es kaum Zeit, die Reise fertig aufzuschreiben. Es fehlen noch die Geschichten von unserem letzten Stop vor der südnorwegischen Küste in einem Archipel von seltsamen, wie traumhaft geformten Steinen und Felsen, von unserer epischen Nonstopfahrt übers Skagerrak, durchs Kattegat und bis in den Sund, von den Delphinen, die uns begleiteten, und schließlich auch von unserer Rückkehr in heimische Gewässer. Stay tuned. Erstmal aber: Wintersegeln.
Seit unserer Rückkehr war ich nur einmal noch kurz beim Boot, irgendwann im September, um alles für eine längere Pause zu sichern. Danach consumed durch Angelegenheiten an Land, an Orten, die mehr als fünfhundert Kilometer von jeder Küste entfernt sind. Das ganz konkrete Meer, das, auf dem echte Boote segeln, gerät dort gerne in Vergessenheit. Vorstellungen und Träume bleiben aber. Deshalb sitze ich inzwischen wieder hier an Bord und suche nach einem Einstieg.
Wintersegeln. Wollte ich immer schon machen. Und wann, wenn nicht nach einer Reise zum Polarkreis? Dortselbst war es zwar warm, aber unterwegs war es oft sehr kalt. Und ein wenig bin ichs auch von früheren Jahren gewöhnt, weil ich immer mal wieder im Winter einige Nächte an Bord war. Und das Boot seit drei Jahren den Winter über im Wasser bleibt. Dieses Jahr wollte ich es also wahrmachen. Weihnachten und Silverster unterwegs. Also blieb nach der Sommerreise das Rigg gespannt, Fallen und Reffleinen blieben eingeschoren, nur das Großsegel kam unter Deck und die Persenning drauf. Ach ja, und die Sprayhood musste weg, weil die Montagestellen rosteten. Die Neukonservierung schaffte ich im September, neu montieren konnte ich noch nicht. Also keine Sprayhood. Aber wir sind viele Jahre ohne gesegelt, das Gefühl ist schon bekannt.
Schon für die Vorbereitung der Reise hatte ich mir einiges vorgenommen. Ich wollte fit sein unterwegs, um Kälte und Anstrengung gut auszuhalten, und dafür laufen und schwimmen gehen. Und ich wollte mir genau überlegen, was Kälte bedeutet und was ich dafür brauche. Beides rechtzeitig. Natürlich kam es wie so oft. Entkräftet durch zuviel Arbeit, überhaupt nicht fit wegen zuwenig Sport und ohne die ganze Sache gut durchdacht zu haben kam der 23.12., der Tag, an dem das Boot durch die Brücke musste, die danach für zwei Wochen zu bleibt. Zusammen mit L. fuhr ich früh morgens nach Greifswald. Auf dem Weg vom Bahnhof zum Boot kauften wir noch Wasser und Fressalien ein für die kommenden Tage. Es war toll, das Boot nach so langer Zeit überhaupt mal wieder zu sehen. Lag da, als sei nichts gewesen, mit den Leinen alles okay, mit der Persenning alles okay. Das Deck mit alten Blättern und Vogelscheiße verdreckt, wie üblich, ansonsten aber war alles so, wie wir es verlassen hatten. Wir bauten die Persenning ab, schrubbten das Deck ordentlich. Peilten die Brücke um eins an, die vorletzte Öffnung des Jahres.
Um zwölf öffnete ich die Tür zum Motorraum. Sichtprüfung. Mein Blick blieb am Spannungsmesser für die Starterbatterie hängen. Die Nadel stand bei vier Volt. Damn. Adrenalin. Tausend Gedanken. Scheiß Billigbatterie, was mach ich jetzt Silvester?, kriegen wir das noch hin?, wie hab ich das damals gemacht als ich den Motor mit der Verbraucherbatterie starten wollte?, hat das damals überhaupt funktioniert? usw. Bäm. Ohne Motor geht nix. Keine Brücke, kein Segeln, kein Winter, nix.
Die Brücke um eins schaffen wir nicht. Aber es gibt ja noch eine um drei. Wir legen Landstrom, schalten das Ladegerät ein. Die Batterie wird nicht erkannt. Umschalten des Ladegeräts auf Konstantspannung hilft. Das Ladegerät dient dann einfach als Netzgerät und misst nicht gleichzeitig noch den Ladezustand der Batterie, es wird einfach Strom geliefert. Auf diese Weise laden wir eine dreiviertel Stunde. Die Starterbatterie hat nur knapp fünfzig Ampèrestunden (ja, ist zu klein, ich weiß), sollte also in zwei Stunden ausreichend voll sein, um den Motor zu starten. Unter normalen Umständen jedenfalls. Nach einer Stunde, es ist bald zwei Uhr, schalten wir das Ladegerät ab. Der Spannungsmesser zeigt elf Volt. Ein Fortschritt. Reicht aber nicht zum starten. Ich schalte das Ladegerät wieder in Ladebetrieb, diesmal wird die Batterie erkannt. Zeitlich wird das wahrscheinlich nicht reichen. Welche Lösungen gibt es noch?
Von Hand starten, mit der Kurbel, wollte ich immer schon mal ausprobieren mit diesem Motor. Hab ich bisher nicht gemacht, warum auch immer. Könnte ja durchaus mal nützlich sein. Heute zum Beispiel. Die Kurbel liegt seit Jahren immer griffbereit. Ich öffne die Ventilhebel, setze die Kurbel an, bringe das Rad auf Schwung. Aber bevor L. die Ventilhebel schließen kann, springen die ersten beiden von selbst zurück und die Kurbel stoppt. Soviel Kraft hab ich nicht. Keine Ahnung, warum das so passiert. Leider auch keine Zeit, um das irgendwo nachzulesen. Also nächste Option.
Wir lassen das Ladegerät laufen, während der Startknopf betätigt wird, in der Hoffnung, dass der zusätzliche Strom reicht, um den Motor zu starten. Eine schlechte Idee. Das Ladegerät schaltet sich sofort selbst aus, die Batterie stürzt kurzzeitig auf fünf Volt, Motor dreht nur sehr müde. Es ist viertel nach zwei. Wenn wir um halb drei nicht loskommen, ist die Nummer gelaufen. Nächste Option.
Ich baue das Ladekabel, das vom Ladegerät zur Starterbatterie läuft, so um, dass die Verbraucherbatterie den Anlasser bedient. Beim Basteln merke ich, dass ich wohl, als ich das vor vielen Jahren gebaut habe, schon bei der Installation an diese Notlösung gedacht haben muss. Die Verkabelung mit den Unterbrechungsschaltern und den verschiedenen Stormquellen ist so gemacht, dass es reicht, das Ladekabel vom Ladegerät einfach an die Verbraucherbatterie anzuschließen und mit dem Batterieschalter die Starterbatterie vom ganzen Kreis zu trennen. Weil das beim letzten Mal, als ich das versucht habe, nicht so richtig gut lief, so zumindest meine dunkle Erinnerung, öffne ich die Ventilhebel, dann startet L. den Motor, der Anlasser dreht, die Ventilhebel springen von alleine zurück, es ruckelt und zuckt ein wenig, der Auspuff hustet, dann springt der Motor an und - läuft. Unglaublich. Es ist fünf vor halb drei. Keine Zeit, um zu überlegen, ob es vielleicht besser wäre, unter diesen Umständen nicht raus zu fahren, weil diese Notlösung alles andere als zuverlässig ist. Wir packen das Landstromkabel weg, werfen die Leinen los, fahren aus der Box und nehmen Kurs Richtung Brücke. Wir sind prima in der Zeit.
Während L. oben den Fluss entlang steuert, schließe ich unten die Starterbatterie wieder an den Ladekreislauf an, damit sie jetzt, unter Motor, weiter geladen wird. Pünktlich um zehn vor drei sind wir an der Brücke. Die Brückenwärter hatten am Telefon - ich wollte sicher gehen, dass die Brücke auch wirklich aufmacht um drei - in einer Mischung aus drohend und bittend gesagt, dass wir auf jeden Fall pünktlich sein sollen. Ich winke ihnen kurz zu und wünsche mit ehrlichen Gedanken eine frohe Festzeit.
Und dann sind wir plötzlich durch, fahren durch den Hafen von Wieck, überlegen, ob das Boot besser längsseits vor dem Hafenamt oder in einer Box liegt. Längsseits ist besser. So komme ich bei den zu erwartenden westlichen Winden alleine besser los.
Am Abend gehts zurück nach Berlin. Erst am 25. bin ich wieder an Bord, diesmal allein. Eigentlich hatte ich geplant, am 26. früh aufzubrechen nach Rügen, um dort das angekündigte Sturmtief im Hafen abzuwarten. Aber das Tief zieht schneller als gedacht, und auf dem Greifswalder Bodden weht es mit sechs Beaufort, in Böen mehr. Kein gutes Setting, um das erste Mal seit langer Zeit alleine loszufahren. Natürlich schwanke ich bis zuletzt und überlege, ob ichs nicht wagen soll. Aber am Ende überwiegen Furcht und Sicherheitsüberlegungen. Es ist die richtige Entscheidung.
Inzwischen hat der Wind deutlich abgeflaut. Ich freue mich auf eine ruhige Nacht. Morgen geht es quer über den Greifswalder Bodden. Ein kurzes Stück, genau richtig, um auszuprobieren, wie es sich anfühlt, bei Temperaturen etwas über dem Gefrierpunkt zu segeln. Ich bin aufgeregt. Wintersegeln. Stay tuned.

27. Dec. 2016

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