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Last Chance to Party
In Kopervik sprachen uns an einem Abend noch zwei nicht mehr ganz nüchterne Typen an, die mit ihrem Boot, einer schnittigen kleinen Segelyacht, gegenüber am Steg lagen. Sie fragten nach woher, wohin und wir fragten das Gleiche. Für die Regatta seien sie hier, die am nächsten Tag starten solle, erst mit einem Lauf auf dem Sund vor Kopervik, am Nachmittag dann mit einem Streckenrennen von Kopervik nach Haugesund. Dort sei ein großes internationales Jazzfestival mit vielen guten Konzerten, noch das ganze Wochenende (es war Freitag). Wir sollten unbedingt nochmal zurück fahren, um das Festival mitzukriegen. Für mich ein absurder Gedanke, nochmal zurück zu fahren, waren wir doch in den vergangenen Tagen so gut unterwegs gewesen, fokussiert auf ein zügiges Nachhausekommen. Aber dieses Bestehen darauf, dass wir dieses Festival auf keinen Fall verpassen dürfen, machte zumindest klar, dass es ihm ganz wichtig war.
Die beiden waren am Tag von Stavanger nach Kopervik gesegelt. Bald kam die Frage auf, ob wir in Stavanger vorbei gekommen seien, und als ich das verneinte, brach der Lokalpatriotismus sich in einer fast wüsten Beschimpfung Bahn: What, you didn't go to Stavanger? You are a fucking moron!
Was kumpelhaft gemeint war, empfand ich dann aber doch als ein wenig zu grob. Konnte aber auch sehen, dass er selbst von seiner Wortwahl etwas überrascht war. Und verstand auch, dass dieser inszenierte outcry eigentlich nur eine gesteigerte Form des üblichen Lobes verschiedener Orte war, das hier in vielen Gesprächen früher oder später stattfindet. Ab und an wurde uns dann erzählt, wo wir unbedingt hinfahren müssten wegen diesem und jenem unglaublich großartigen Ding.
An Stavanger vorbei zu fahren ist aber natürlich auch idiotisch. Insofern konnte ich nur beipflichten. Aber dass wir vorbei gefahren waren (und auf der Rückfahrt fuhren wir dann wieder vorbei, fucking morons) hatte ja seine Gründe, aber dem betrunkenen, kumpeligen Regattasegler diese Gründe darzulegen war in der Situation echt nicht angebracht.
Das Boot, mit dem sie da waren, war aber cool. Und ihre Story dazu war auch cool, und auch ein bisschen traurig. X-Men hieß das Boot, und vorne am Bug, vor dem Schriftzug, hatten sie sich einen Custom-Aufkleber gebastelt, und das sah grafisch dann so aus, als säße Wolverine vorne im Bug und würde gerade seinen Supermetallkrallen durch den Rumpf reißen. Mit dem Namen wollten sie aber auch ausdrücken, dass sie beide zwei geschiedene Männer sind. X-Men eben. Ha, ha. Als Identitätsentwurf fand ich das dann aber auch ungewollt subversiv, diese Mischung aus Ex-Mann und Übermann.
Später kam noch ein zweites Boot an, diesmal mit einer Frauencrew, die sich neben die X-Men legte, man kannte sich wohl auch. Lea kam noch mit einer der beiden ins Gespräch, auch über Haugesund. Das Jazzfestival sei wirklich toll, und es sei eben schon das Ende der Saison, sonst sei halt nirgends mehr was los. It's your last chance to party.

20. Aug. 2016

Fast Rückseitenwetter
Nach einer letzten unbequemen Nacht, in der der Wind durch die Wanten heulte und das Boot im stürmischen Nordwind an den Leinen tanzte, wachte ich morgens auf -- weil der Wind noch einmal zugenommen hatte und Regen auf die Luke prasselte. So sieht eigentlich keine Rückseite aus. Wenn ein Tief durchgezogen ist, findet sich auf der Rückseite des Tiefs meist blauer Himmel und starker, aber nicht mehr stürmischer Wind aus Nordwest bis Nord, je nachdem auf welcher Höhe relativ zum Zentrum des Tiefs man sich befindet. Der Regen zog aber bald ab, nur eine Schauerbö (wobei die Schauerböen hier deutlich mächtiger und ausgedehnter sein können als auf der Ostsee), und am späten Vormittag flaute der Wind endlich ab auf fünf bis sechs Beaufort. Liten Kuling. Nach dem Sturm erschien uns das nicht mehr als Obergrenze, bei der wir noch segeln wollen, sondern als guter Wind, zudem von hinten. Jedenfalls bis wir aus dem Hafen gefahren waren und die aufgewühlte See mit hohen, von Gischt bekränzten Wellen sichtbar wurde.
Erstmal aber fuhren wir an die Tankstelle. Denn das Anlegen unter Segeln drei oder vier Tage zuvor war weniger selbstgewählt als von einem Ausfall des Motors erzwungen gewesen. Schon als der Motor kurz nach dem Setzen des Großsegels, dreißig, vierzig Meilen vor Fedje, einfach so aufhörte zu laufen, und dann auch nicht mehr richtig anspringen wollte, hatte ich kurz über Ursachen nachgedacht. Allerdings nur kurz, weil dann recht bald der Wind auffrischte und unser Landfall unter Segeln geplant und vorbereitet werden musste, während wir mit hohen, seitlich anlaufenden Wellen zu tun hatten, außerdem mit einem permanenten Monitoring der Windrichtung und -stärke, von der die Möglichkeiten des Einlaufens und Anlegens unter Segeln in Fedje ja maßgeblich abhingen. Die Problemanalyse musste also warten.
Kurz nach unserer Ankunft in Fedje hatte sich unser Missgeschick mit dem Motor und unsere erzwungene kleine seglerische Meisterleistung -- Anlegen unter Segeln bei fünf bis sechs Beaufort -- schon herumgesprochen. Es war Samstag Nachmittag, deshalb gingen wir den langen Weg um die Bucht herum ins Dorfzentrum, um noch etwas einzukaufen. Auf dem Rückweg begegnete uns ein Mann auf dem Fahrrad, der uns ansprach. Der Segler, der am Morgen mit den Leinen geholfen hatte, habe ihm erzählt, dass wir ein Problem mit dem Motor hätten und deshalb unter Segeln reingekommen seien. Er könne uns gerne mit dem Dinghy rausschleppen, wenn wir weiter wollten.
Erst war ich ein wenig überrascht. Wir waren doch gerade erst angekommen und wollten gar nicht wieder raus. Freundlich lehnten wir sein Angebot ab und bedankten uns, und unser Plan, das Sturmtief in Fedje abzuwettern, leuchtete ihm auch ein. Später am Tag verstand ich dann sein Angebot besser. Nach unserer Ankunft hatte sich das Wetter wieder gebessert, es herrschte bester Segelwind, vier bis fünf Beaufort aus Nord, dazu Sonne, am Himmel nur kleine Kumuluswolken, die eine (noch) stabile Luftschichtung anzeigten. Erst am Abend zogen dann die ersten hohen Cirruswolken, Vorboten des Tiefs, am Himmel auf. Und es wäre ganz vernünftig gewesen, mit einem Motorproblem, das professionelle Hilfe erfordert, in eine größere Stadt, also nach Bergen, zu fahren. Zeitlich hätte das dicke gereicht. Ganz abgesehen davon dass der Wind weiter im Inland bei weitem nicht so stark wehen würde wie draußen auf der exponierten Insel Fedje in der offenen norwegischen See.
Im Lauf der drei Tage lernten wir den netten Nachbarn bei ein paar Pläuschen auch noch etwas kennen. Sein Boot, oder eigentlich: Schiff lag dreißig Meter entfernt an einem Schwimmsteg, ein altes Fischerboot mit einem hölzernen Rumpf, Eiche, sauber lackiert, und einem Aufbau aus Aluminium, wo er mit seinem Sohn gerade dabei war, die alten Laderäume und Arbeitsdecks zu mehreren Appartments auszubauen. Wände waren allerdings noch keine gezogen und alles war ziemlich in der Hauptphase. Überall standen oder lagen Werkzeuge, in der Mitte des Arbeitsdecks hatten sie eine große Werkbank aufgestellt. Die Decke war schon verlegt, darunter auch Kabel und andere Leitungen, wie er uns bei einem Besuch erklärte.
Schon beim ersten Besuch -- er kam bei uns vorbei, nachdem er selbst aus dem Dorf zurückgekehrt war -- erzählte er uns ein wenig von sich und seinem Leben. Vor der Geburt seines Sohnes (der in dem Moment neben ihm stand) war er mit seiner Frau auf die Insel Fedje gezogen und hatte dort das Fabrikgebäude gekauft, wo jetzt der Gästesteg ist, an dem Aimé auch lag. Dort hatte er die Zinnfigurenfabrik eingerichtet, die schon sein Großvater gegründet hatte und die bis dahin an einem anderen Ort gewesen war. Das Gebäude ist groß und das Unternehmen muss wirklich eine major operation mit vielen Mitarbeitern gewesen sein. Vor einigen Jahren aber hatte einer der größten Kunden der Fabrik entschieden, die Produktion seiner Figuren nach Thailand zu verlagern. Ein Konkurs konnte durch Entlassungen abgewendet werden, aber richtig erholen wollte sich das Geschäft nicht. Vor ein paar Jahren wurde das Fabrikgebäude dann verkauft, die Familie zog zurück aufs Festland nach Bergen. Was er jetzt genau macht, abgesehen von der Bootsrenovierung, wurde nicht klar. Der Mensch sprudelt vor Ideen und Einfällen, und das Gespräch und seine Erzählung verlief herrlich assoziativ, sodass ich jetzt keine kohärente Lebensgeschichte erinnere, bei der eines aus dem andern hervorgeht und die späteren Lebensphasen und -handlungen in den früheren ihre Ursachen finden, sondern eben: viele verschiedene Tätigkeiten, die sich zum Teil überschneiden, parallel laufen, abhängig sind voneinander oder unabhängig. Das Bauen und Arbeiten jedenfalls war ein wichtiger Baustein, egal ob in der Fabrik oder an einem seiner Boote. Neben dem Fischkutter besitzt die Familie noch eine große, alte, hölzerne Segelyacht und diverse Dinghies. Die Segelyacht liegt auch in Fedje, ein wunderschönes Schiff, das wir bei einem Spaziergang aus der Entfernung sahen. Bestimmt gute zwanzig Meter lang, elegante Linien, die Yacht eines edlen Herrn mit Geschmack, gebaut von einer Werft, die ihr Handwerk verstand.
Harald -- seinen richtigen Namen kenne ich nicht, irgendwie scheint man das hier nicht so zu machen mit der namentlichen Vorstellung, das ging mir auch schon bei anderen Begegnungen so -- bot uns auch an, den Kontakt zu einem Schiffsmaschinisten herzustellen, der auf der Insel lebt, falls unser Problem für uns selbst nicht lösbar sein sollte. Am nächsten Tag, der Wind blies erst mit sechs bis sieben Beaufort aus Süd und das Boot lag noch vergleichsweise ruhig an seinem Molenplatz, machte ich mich schließlich an den Motor. Zwei Möglichkeiten für die Ursache kamen nach meinem Wissen von der Technik und dem Zustand der Teile in Frage. Abgesehen also von allen tausend möglichen anderen Ursachen, die von Teilen herrühren könnten, die ich gar nicht kenne. Der Motor war nämlich bisher immer ein Teil vom Boot, das ich eher gemieden habe. Zumindest im Vergleich mit all den anderen Teilen (und das betrifft fast das gesamte Boot), die ich auf die eine oder andere Weise entweder selbst gebaut oder schonmal zerlegt und wieder zusammengebaut habe. Einen Ölwechsel habe ich mal gemacht, inklusive Ölfilterwechsel, und den letzten Ölwechsel leider viel zu spät, entsprechend einem doppelten Wartunsintervall zweihundert Betriebsstunden nach dem vorherigen Ölwechsel. Ganz zu Anfang habe ich den Dieselfilter gegen ein neues Modell getauscht und bei der Gelegenheit die Kraftstoffleitungen erneuert. Allerdings nicht daran gedacht, einen Absperrhahn einzubauen, weshalb der Dieselfilter nur bei niedrigem Stand im Tank gewechselt werden kann. Besonders fatal, wenn der Filter bei etwas höherem Tankstand blockiert. Jedes Jahr lasse ich das Wasser aus dem Kühlkreislauf, öffne das Gehäuse der Wasserpumpe und schmiere die zugehörigen Teile. Den Luftfilter habe ich auch zu Anfang gewechselt, also vor etwa zehn Jahren. Außerdem musste ich einen neuen Kühlwasserfilter einbauen, kurz vor der Reise, und bei der Gelegenheit hab ich auch die Kühlwasserleitungen bis zur Pumpe ausgetauscht, weil die viel zu lang waren und einen sehr großen Durchmesser hatten. Dafür hab ich Waschmaschinenschlauch verwendet, und auch da frage ich mich, ob das eine gute Idee war. Ist Waschmaschinenschlauch seewasserbeständig und ölbeständig?
Neben den beiden möglichen logischen Ursachen hatte ich also auch meine eigenen Basteleien als mögliche Ursache in irgendeiner verqueren Form im Kopf. Wahrscheinlicher aber als Kühlwasser- oder Ölsachen war beim beobachteten Absterben des Motors ein Problem bei der Dieselzufuhr. Die musste unterwegs irgendwie unterbrochen worden sein. Und dafür gab es zwei mögliche Gründe: Entweder hatte der Motor bei den hohen Wellen Luft gezogen. Das wäre das einfachste Problem, dann müssten einfach nur die Leitungen entlüftet werden. Oder aber die Schaukelei hatte jetzt endlich all den Bioschlamm so gut aufgewirbelt, dass der Filter sich zugesetzt hatte. Dann wäre neben dem Austausch der Filter auch eine gründliche Säuberung von Tank und Leitungen angefallen.
Laut meinen Berechnungen befanden sich noch fünfzig Liter im Tank. Also etwa ein Viertel voll. Hatte ich mich wirklich so verrechnet und der Sprit war doch alle? Schließlich hatten wir die Heizung häufiger als sonst angemacht (Normaltemperatur 10-15 Grad, am Tag!), und auch der Motor war meistens mit mehr als den sonst üblichen 2000 Umdrehungen gelaufen, um gegen Strömung, Wind und Wellen anzukommen, in schmalen Durchfahrten oder wenn wir auf See in die Flaute kamen. Aber fünfzig Liter? Und das, obwohl sonst meine Berechnungen immer einen höheren Verbrauch angenommen hatten als dann tatsächlich anfiel? Aufklärung brachte eine geometrische Zeichnung. Also erstmal Spritstand im Tank messen. Dafür haben wir leider kein elektronisches Instrument, sondern müssen jedes Mal die Inspektionsklappe aufschrauben (zwanzig kleine Schrauben) und dann ein kleines Stück Messlatte in den Tank hinunter lassen. Aber gut. Machte ich, und in der Tat: ~50 Liter, give or take. Also Bioschlamm? Ich baute den Feinfilter ab, fand dort aber rein gar nichts, nicht mal Spuren. Und wenn Bioschlamm die Ursache wäre, müssten doch dort wenigstens Spuren sichtbar sein? Ätzende Arbeit. Diesel auf den Händen. Diesel in der Bilge. Dieselgeruch im Boot. Und gleichzeitig toll. Endlich bekam der Motor die Aufmerksamkeit, die er schon längst hätte bekommen müssen. Weil nicht nur dass er einfach ausgegangen war, seit mehreren Tagen schon leckte am Ventil zur Entwässerung das Kühlwasser, tropfenweise nur, also nicht bedrohlich, aber eben doch. Am Motorkörper kristallisierte das Salz aus, und jeden Morgen vor Abfahrt lenzte ich einen Schwamm mit Wasser aus der Motorbilge.
Aufschluss brachte eine geometrische Zeichnung. Ich wollte wissen, wie sehr das Boot mit fünfzig Litern im Tank krängen muss, damit der Kraftstoffauslass am Tank in der Luft hängt. Ergebnis: 18 Grad. Da war ich ziemlich erstaunt. Weil: Zwanzig Grad krängen wir bei leichtem Wind um überhaupt loszufahren. Okay, nicht ganz so krass. Aber bei vier bis fünf Beaufort krängen wir locker zwanzig bis dreißig Grad. Und wenn das Boot von 1,5 bis zwei Meter hohen Wellen von der Seite geschubst wird, dann legt es sich locker soweit auf die Seite, gefühlt noch deutlich mehr. Und in der Tat hatte ja schon eine gute halbe Stunde vor dem Segelwechsel der Wind aufgefrischt, waren die Wellen höher und stärker geworden. Und hatten wir den richtigen Zeitpunkt zum Segelsetzen, weil Nacht und Dunkelheit und erschöpft, verpasst. Nicht schlimm, dachte ich da in der Nacht, ist kein Problem, ich muss Lea nicht früher wecken als im Wachplan festgelegt, und wir machen unsere fünf Knoten Fahrt auch jetzt. Situation ist stabil. Fehleinschätzung.
Beim Entlüften der Leitung kam dann auch ordentlich Luft. Die hatte der Motor gezogen. Die halbe Stunde im auffrischenden Wind hatte er noch die Reste aus der Leitung gezogen, bis dann eben irgendwann Luft kam und nichts mehr ging. Jetzt also entlüften, schön nach Handbuch. Und dabei die Reihenfolge falsch hingekriegt und erst am Feinfilter direkt am Motor, danach am Grobfilter entlüftet, der noch vor dem Feinfilter sitzt. Also nochmal am Feinfilter Diesel durch die Entlüftungsschraube gepumpt, bis sicher keine Luft mehr in der Leitung war. Bis dahin hatte ich die Prozedur auch schonmal gemacht, nach dem Wechsel der Filter vor Beginn der Reise. Damals hatte das gereicht und der Motor war nach wenigen Umdrehungen mit dem Anlasser wieder angesprungen. Also erster Startversuch. Funktioniert nicht. Im Handbuch steht, dass als nächstes die Hochdruckleitungen von der Einspritzpumpe zu den Zylindern einzeln entlüftet werden sollen, und zwar indem man jeweils eine Leitung abschraubt, den Motor mit dem Anlasser dreht und dann die Schraube zudreht, sobald Diesel austritt. Prima. Die Schraube geht kaum ab, ist noch komplett beschichte, die hat noch nie jemand abgemacht. Es braucht ordentlich Kraft auf dem Schraubenschlüssel, um sie loszumachen. Aber was sein muss, muss sein. Dann starten wir den Anlasser. Lassen ihn zehn Sekunden laufen, aber es kommt kein Diesel. Lassen ihn eine halbe Minute laufen, aber es kommt kein Diesel. Kann man den Motor überhaupt so lange mit dem Anlasser drehen, ohne dass er wegen fehlender Schmierung kaputt geht? Anruf beim Experten in der Familie: "Ja, kann man, müsste aber eigentlich nach ein paar Umdrehungen was kommen. Sonst musst Du halt noch den Zulauf der Pumpe entlüften. Oder die russische Methode, die Einspritzpumpe am Anschluss der Zylinderleitungen mit Diesel füllen."
Ich beschreibe die Leitung vom Feinfilter zur Einspritzpumpe und den Anschluss der Leitung an der Pumpe. "Das ist doch eine Entlüftungsschraube!" Schön wär's, steht aber nichts von im Handbuch. Da steht nur: Feinfilter entlüften, und dann die Nummer mit der Hochdruckleitung. Auf dem Rechner habe ich noch ein Handbuch für unseren Motor, das sich an den professionellen Mechaniker richtet. Dort sind alle Teile des Motors nochmal genauer beschrieben. Und in der Tat ist dort die Schraube an der Leitung vor der Pumpe als Entlüftungsschraube aufgeführt. Warum in aller Welt nicht im Nutzerhandbuch? Wenn da das Entlüften der Leitungen bis zur Hochdruckleitung nach der Pumpe beschrieben ist?
Das Entlüften mit dieser letzten Schraube bringt jedenfalls den erhofften Heilungseffekt. Weitere Aktionen mit den Hochdruckleitungen sind dann gar nicht mehr nötig. Der Motor stottert kurz, als würde er Anlauf nehmen, dann läuft erst ein Zylinder, bald auch die zwei weiteren. Noch ein paar kurze Stotterer und alles läuft wieder bestens, wie bekannt. Ich höre auf jede kleinste Unwucht, jedes kleinste Geräusch, jede Abweichung vom Rhythmus, aber alles steht durch. Wir lassen den Motor eine halbe Stunde laufen. Ich bin froh, dass das funktioniert hat. Noch am gleichen Abend nehme ich mir das undichte Ventil vor, baue es aus, lerne die Konstruktion kennen, die glücklicherweise sehr einfach ist. Leider aber auch sehr fehleranfällig. Ein Konus mit einem Loch durch wird von einer Schraube mit Sprengring in place gehalten. Diese Sicherungsschraube muss also so fest angezogen sein, dass die Spannung des Sprengrings ausreicht, um Hülle und Innenteil so gegeneinander zu pressen, dass kein Wasser durchkommt. Damit das Teil aber als Ventil funktioniert, muss gleichzeitig die Spannung gering genug sein, dass man den Hebel noch drehen kann. Dafür ist der Sprengring da. Und der ist, nach dreißig Jahren, leider ziemlich verwittert und gar nicht mehr geeignet für die richtige Spannung. Weil dieses Ventil nur für die Entwässerung gebraucht wird und das, so hoffe ich, erst wieder zum Einwintern passiert, ziehe ich die Sicherung einfach so fest, dass kein Wasser mehr austritt. Bewegen kann man das Ventil nur, wenn vorher die Schraube wieder gelockert wird. Nicht so komfortabel, nicht optimal, aber jedenfalls dicht.
Der Motor und mein Verhältnis zum Motor sind also wieder gut in Schuss, als wir die Leinen lösen, um zur Bootstankstelle zu fahren. Wir wollen vor der Abfahrt den Tank füllen, damit uns nicht wieder Luft in die Leitung kommt. Der Kai, an dem die Zapfsäule steht, ist ziemlich räudig, nur mit alten Reifen behängt, wie die meisten Industriekais hier in der Gegend. An einer Stelle fehlen die Reifen sogar, und als wir angelegt haben sehen wir, dass knapp oberhalb der Wasserlinie ein alter, rostiger Eisenstab aus der Wand ragt, der vorher dazu da war, einen Reifen zu stabilisieren. Ich bin froh um unsere übertrieben großen Kugelfender, die wir schon zum Abfendern während des Sturms aufgeblasen und rausgehängt haben, und die uns jetzt schön weit von der Mole fernhalten.
Wir tanken voll, natürlich. Dann geht es raus aus dem Hafen.
Wir haben vor der Abfahrt die 35er, unsere kleine Genua angeschlagen, in Erwartung von fünf Beaufort, die der Wetterdienst vorhergesagt hat. Vor der Einfahrt von Fedje ist ein recht großes, aber noch gut durch Schären und Felsen geschütztes Becken. Dort ist das Wasser ruhig (außer bei östlichen Winden), man hat aber schon einen guten Blick auf den Fjord, der zwei Seemeilen weiter nördlich ins offene Meer übergeht. Von dort aus sehen wir, wie sich an den Felsen auf der gegenüberliegenden Seite die Wellen brechen, und wir sehen die Wellen selbst von Norden nach Süden durch den Fjord laufen. Die Wellen sind hoch und haben ordentliche Schaumkronen. Wir wechseln die 35er gegen die Starkwindfock. Weil während dem Zusammenlegen immer wieder Böen ins Segel fahren, dauert die Aktion eine ganze Weile. Schließlich geht das neue Vorsegel nach oben und wir nehmen Kurs aus der Bucht raus ins offene Wasser. Der Wind zieht uns gleich gut voran, und schon bald haben wir Fedje querab, nehmen Kurs Süd, und laufen die Wellen unterm Rumpf hindurch, dass das Wasser an den Seiten hervor sprudelt. Herrliches Segeln. Die Sache ist ein kleines bisschen überwältigend, weil ich nicht ganz glauben kann, dass wir das jetzt gerade machen. Vor kurzem war hier noch Sturm und jetzt segeln wir hier? Der Himmel ist noch von Wolken bedeckt, und in Luv sehen wir den einen oder anderen Schauer über Land ziehen. Sonne gibt es nicht.
Aber schon bald gibt sich dieses Gefühl der Unsicherheit. Aimé findet gut ihren Weg, und mit der Starkwindfock sind wir sogar unterpowert, machen trotz guten Winds nur um die fünf Knoten. Also wechseln wir wieder auf die 35er. Was auch gut klappt. Inzwischen sind wir eingespielt, auch wenn sich das Boot im Wellengang mal etwas stärker bewegt. Die Arbeit auf dem Vorschiff ist gut, Aktion, es passiert was, ich schaue nach achtern, blicke in den Wind, und freue mich, dass wir mit dem größeren Segel viel besser im Wasser liegen und besser vorankommen, nicht weniger stabil als vorher, aber mit unglaublich langen Surfs, wenn zwischendurch eine Bö und eine Welle so zusammenkommen, dass sie uns zusammen ein weites Stück vorantragen.
Später kommt die Sonne und die Szenerie entwickelt sich zur klassischen Rückseite. Sonne bricht durch die Wolkenlücken, die Schauerböen werden weniger. Größere Wolken steigen über der Inselkette in Luv von uns nach oben und vereisen, verbreiten sich dann flach fast konzentrisch in Zeitlupe nach außen, ein irrer Anblick. Nur eine Schauerbö erwischt uns, recht spät, dann doch noch, und deckt uns nicht nur mit Regen, sondern auch mit Hagelkörnern ein, die eine ganze Weile auf Deck und auf der Sprayhood liegen bleiben, bevor sie schmelzen. Es ist kalt heute, unter zehn Grad, und ich trage alle langen Unterhosen, die ich habe, dazu meine polartaugliche Marinejacke.
Am frühen Abend passieren wir Bergen. Der Tidenstrom läuft mit uns, und weil der Strom in dieser Gegend so stark ist, dass wir ihn für die Fahrtplanung berücksichtigen müssen, beschließen wir, noch weiter zu fahren. Mit Sonnenuntergang erreichen wir eine kleine Bucht zehn Seemeilen südlich von Bergen. Das Ankermanöver dauert lang, weil der Anker auf dem felsigen Boden eine ganze Weile nicht greift, und als wir mit allem fertig sind ist es schon dunkel.
Am nächsten Tag stehen wir um sechs Uhr auf. Der Wind soll weiter aus Nordwest wehen, wenn auch schwächer als am Vortag. Aber weil in den inneren Schärengewässern der Wind oft anders weht als weiter draußen an der Küste, sind wir auch mit dem leichten Ostwind zufrieden, der uns am frühen Vormittag über den Korsfjord und quer über den Bjørnafjord schiebt. Für heute haben wir uns viel vorgenommen. Der Wind soll in der kommenden Nacht auf Südwest drehen und bis auf sechs Beaufort auffrischen, und wir wollen deshalb vorher eine der wenigen unausweichlich offenen Stellen an der Küste, Sletta, passieren. Gegen Mittag schläft der Wind ein und wir starten den Motor. Damit hatten wir schon gerechnet. Strömung hindert uns am guten Vorankommen und wir suchen unser Glück, weniger Strömung, ganz am Rand des Fjords. Funktioniert, anders als in den flacheren Gewässern der Ostsee, leider nur eingeschränkt, weil die Felswände so steil abfallen, dass auch am Rand der Strom durch nichts gebremst wird. Am späten Nachmittag passieren wir Leirvik, und hier kentert der Strom und wir fahren plötzlich statt mit vier mit siebeneinhalb Knoten unserem Ziel entgegen.
Über die Sletta können wir segeln, aber kurz vor Haugesund schläft der Wind wieder ein. Noch immer haben wir den Strom mit uns, und beschließen deshalb, durch den schmalen Haugesund noch weiter zu fahren, bis es dunkel wird. Und landen schließlich in Kopervik, einer Kleinstadt mit etwa siebentausend Einwohnern, wo wir auch jetzt noch liegen. Den ganzen Tag hat es geregnet und aus Südwest geblasen, sodass ein Vorankommen zwar möglich, aber unglaublich mühsam gewesen wäre. Und wir brauchen unsere Kraft für die anstehenden langen Phasen, die uns wieder raus auf die Nordsee führen werden. Einige Nachtfahrten stehen an. Im besten Fall schaffen wir es von hier aus um Kap Lindesnes bis Mandal ohne Zwischenstopp, um dann von dort aus schon bald in Richtung Skagen aufzubrechen. Die Reise nähert sich wirklich ihrem Ende, und es ist ein merkwürdiges Zwischenstadium, in das mich dieser Umstand bringt. Ich bin fokussiert auf die Fahrt. Freue mich auch auf die Herausforderung, jetzt nochmal länger über See zu fahren. Gleichzeitig ist das alles auch sehr arbeitsintensiv und mühsam, und ich will bald ankommen. Und mich andererseits vorher nochmal gut erholen, nicht so bald losfahren. Noch ein wenig von Norwegen, von der Gegend hier sehen, nachdem wir in den letzten zwei Wochen fast nur unterwegs waren.
Der Wind hat inzwischen auf West gedreht. Für morgen sind noch starke Westwinde angesagt, sechs Beaufort, in Böen sieben bis acht. Deshalb können wir erstmal nur einen kurzen Schlag machen. Vorgesehen haben wir Tananger oder die Insel Rott. Dort enden die Schären des Westlands und wir müssen ein langes Stück Küste auf See entlang segeln, bevor es dann quer übers Skagerrak geht. Mit etwas Wetterglück ist das in einigen Tagen zu schaffen. Es kann aber auch länger dauern. In jedem Fall haben wir uns vorgenommen, nur dann zu segeln, wenn wir uns sicher sind, dass wirs gut hinkriegen, und uns nicht von Termindruck zu falschen Entscheidungen drängen zu lassen. Klar ist: Gegenan geht nicht. Und sieben Beaufort sind die Grenze. So und so sind die Tage und Nächte übers Meer meist Heavy Metal. Inzwischen haben wir aber auch schon einiges erlebt, sodass mich die anstehenden Fahrten nicht schrecken. Das Boot ist robust, und wir sind es inzwischen auch.

12. Aug. 2016

47
Seit zwei Tagen und zwei Nächten stürmt es inzwischen. Das Boot holt bei jeder Bö weit über und reißt inzwischen auch immer stärker an den Leinen. Der Wind hat auf Nordnordwest gedreht und kommt jetzt fast von vorne. Gegen den Südwest- und den Westwind waren wir noch ein wenig geschützt durch ein Haus am Kai, das wie ein Windbrecher wirkte. Mit dem Nordwind jetzt kriegen wir das Ganze nochmal mit full force. Obwohl er wenig Anlauf hat, baut der Wind im Hafenbecken außerdem eine ernstzunehmende Welle auf, die das Boot zusätzlich in Bewegung bringt. Wenn der Wind jetzt noch ein bisschen weiter dreht, wird er das Boot nicht mehr vom Steg weg, sondern dagegen drücken. Deshalb haben wir heute morgen schon die beiden großen Fender aufgeblasen und vorne und achtern platziert. Trotzdem graut es mir vor diesem Scheitelpunkt. Irgendwann im Lauf der Nacht wird das passieren.
Obwohl ich weiß, dass das Boot gut und sicher vertäut ist, raubt mir das heftige Einrucken den Schlaf. Ein Anholen der Spring, um die Vorleine vom Zug nach vorne zu entlasten, hat nicht gefruchtet. Ich sitze also wieder unter Deck und warte, dass der Wind ausreichend ab- oder die Müdigkeit ausreichend zunimmt, um endlich zu schlafen. Inzwischen scheint mir, dass es ewig weiter so stürmen wird. Hat sich in den vergangenen Wochen das Wetter zum Teil mehrmals am Tag verändert, ist jetzt, abgesehen von der sehr graduellen Änderung der Windrichtung, kein Wechsel mehr zu spüren. Und obwohl ich weiß, dass eben diese Windrichtung anzeigt, dass das Sturmtief langsam nach Westen oder Nordwesten abzieht, zeigt sich die Rückseite des Tiefs nicht wie sonst mit eitel Sonnenschein, etwas gemäßigtem Wind und steigendem Luftdruck. Im Gegenteil, die Sonne, die heute am Nachmittag kurzzeitig zu sehen war, ist wieder von Wolken bedeckt, Regen und Hagelschauer ziehen mit heftigen Böen über uns hinweg und der Luftdruck ist, nach kurzem Anstieg, wieder gefallen.
Positiv betrachtet ist es eine Erfahrung, von der ich sicher noch lange zehren werde. Selten zuvor habe ich einen so schweren Sturm erlebt. Zwischendurch habe ich Fluchtgedanken und wäre am liebsten gar nicht hier, sondern wieder zurück in Greifswald, am Ziel dieser Rückreise. Uns stehen noch eine Reihe längerer Passagen über die offene See bevor, von Tananger aus rund ums Kap Lindesnes bis Mandal, und von dort aus die 120 Seemeilen quer übers Skagerrak. Und das nächste Tiefdruckgebiet ist schon im Anzug. Ein Norweger, mit dem wir uns heute unterhalten haben und der das Wetter und die Gegend hier kennt, meinte, dass so ein Tief normalerweise frühestens Ende Oktober, eher im November zu erwarten ist und für Anfang August nicht normal ist. Er muss es wissen, er arbeitet auf einer Ölförderplattform draußen vor der Küste. Einerseits ist das beruhigend, weil es heißt, dass wir darauf hoffen können, dass sich das jetzt nicht so schnell wiederholt. Andererseits ist es aber auch beunruhigend, weil es heißt, dass die Herbst- und Winterstürme uns auch jetzt schon erwischen können. In den pilot charts ist der August bereits ein schlechter Monat, was Stürme angeht. Statistisch gesehen sind Stürme hier zwar nicht so wahrscheinlich wie in den folgenden Herbstmonaten, aber sie sind auch nicht so unwahrscheinlich wie in den Sommermonaten Juni und Juli, in denen es so gut wie keine Stürme gibt. Deshalb endet die Saison hier auch pünktlich am 15. August.
Das alles wussten wir. Und für diese Tage und diese Nächte hatte es der Wetterbericht auch vorhergesagt: Bis zu 50 Knoten Wind. 47 Knoten hat die Wetterstation von Fedje gemessen, die etwa dreihundert Meter von unserem Liegeplatz entfernt ist. Das sind neun Beaufort oder schlicht und ergreifend: Sturm. Was das auch im Hafen an Anspannung und Anstrengung bedeutet, war mir vorher nicht klar. Ich bin belehrt. Das kann deshalb von mir aus auch gerne mal wieder aufhören.

10. Aug. 2016

Eingeweht -- Sturm
Nach zwei sehr langen Schlägen über insgesamt 250 Seemeilen mit gutem Wind aus nördlichen Richtungen liegen wir jetzt seit zwei Tagen im Hafen von Fedje fest. Sturm. Der Wind weht mit vierzig Knoten aus West, draußen vor der Küste türmen sich die Wellen auf eine Höhe von neun Metern. Wir haben das boot mit dreifachen Vor- und Achterleinen und doppelten Springs gesichert, außerdem unsere großen Sturmfender aufgeblasen. Der Hafen von Fedje ist gut geschützt, sodass kein Schwell in den Hafen steht. Wir liegen auf der Ostseite eines massiven Betonkais, der außen mit Holz verschalt ist. Der Wind drückt das Boot also vom Steg weg und lässt es in den Böen so weit überholen, dass uns beim Frühstück (nach einer Nacht mit eher wenig Schlaf) Tassen, Teller, Marmeladen- und Schokocrèmegläser übern Tisch rutschen. Abgesehen von einer dauerhaft im letzten Winkel des Hafens mit sehr vielen Leinen und zusätzlichen Ankern vertäuten Bavaria 38 sind wir das einzige Segelboot im Hafen. Ein riesiger Hochseefischer hat am Industriekai gegenüber festgemacht, um den Sturm hier abzuwettern.
Die Fahrt von Uthaug bis hierher verlief dank eines nördlichen Winds recht zügig. Von Uthaug aus führt der Weg durch die Trondheimsleia, und weil das Wetter sehr stabil war, segelten wir die Nacht durch. Inzwischen sind Nachtfahrten auch wieder Nachtfahrten, von eins bis drei ist es, abgesehen von einem sanften Leuchten am nördlichen Horizont, ganz dunkel. Am Abend war der Himmel von kleinen Wolken bedeckt, die eine stabile Luftschichtung anzeigen. Trotzdem bargen wir gegen Mitternacht mit der letzten Helligkeit das Großsegel und ließen nur die große Genua stehen, um für einen auffrischenden Wind noch etwas Reserven zu haben. Unter Vollzeug waren wir die Stunden davor mit sechs bis sieben Knoten gen Süden gesegelt und hatten es also nicht mehr ganz so eilig. Gegen halb drei, ich hatte gerade Wache, kam von achtern ein Großschiff auf uns zu. Mit guter Sicht konnte ich das eine ganze Weile beobachten. Bei einer Entfernung von drei Meilen wurde das AIS-Signal auf dem Kartenplotter sichtbar. Soweit so gut. Dass es ein Kollisionskurs ist, hatte ich oben schon gesehen, das Schiff zeigte uns beständig rot und grün, das ganze Buglicht also, das man nur sieht, wenn ein Schiff direkt auf einen zukommt. Aber unser Kurs führte auch entlang der üblichen Schiffahrtsroute, sodass ich davon ausging, dass der aufkommende Frachter (dass es ein Frachter war konnte ich in den AIS-Daten sehen) irgendwann ausscheren würde, um uns zu überholen. Vier Minuten vor impact war ich mir nicht mehr so sicher. Beherzt und auch etwas eilig schaute ich im Plotter nach dem Namen des Schiffs, zog das Handfunkgerät aus der Halterung und ging wieder an Deck. Keine Kursänderung. Auf Kanal 16 funkte ich den Frachter an. Am andern Ende der Verbindung eine verschlafene Stimme, aber immerhin wurde auf den Funkspruch reagiert. Ich bat um ein Gespräch auf Kanal 6, und vergaß dann vor lauter Aufregung die Etikette. Statt erstmal unsere Position mitzuteilen und die Situation kurz zu erklären funkte ich: "Hi, this is the sailing yacht Aimé, I just wanted to make sure that you see us or if we should go to starboard so that you can have your way." Eine Antwort über Funk blieb aus, aber das Schiff hinter uns änderte sehr abrupt seinen Kurs, um an Steuerbord an uns vorbei zu fahren.
Am Vormittag, als wir gerade aus der Trondheimsleia heraus fuhren, schlief der Wind ein. Wir bargen die Segel und motorten. Vom Ausgang der Trondheimsleia bis zur Einfahrt in den Fjord nach Alesund war ein Stück Strecke zurückzulegen, das seewärts sehr exponiert ist. Die alte Welle des Nordwestwinds, der in den vergangenen Tagen teils mit sechs Beaufort geweht hatte, traf uns hier direkt von der Seite. Lea übernahm ihre Wache, aber an Schlaf war wegen der heftigen Rollbewegungen kaum zu denken. Aber es nützt nichts. Die Flaute ist wirklich absolut. Keine vom Wind geriffelten Flächen whatsoever um uns herum. Erst kurz vor Alesund hebt sich wieder ein Lüftchen und wir setzen wieder Segel. Weil wir wegen der schnellen Fahrt am Vortag recht früh bei Alesund waren und dort auch wieder segeln konnten, entschieden wir uns dafür, den Tag trotz Müdigkeit noch zu nutzen und möglichst nahe an die Halbinsel Stad heranzufahren. Das Sturmtief, das uns jetzt hier im Hafen festhält und das Boot an den Leinen wild tanzen lässt, war schon angekündigt und wir wussten, dass wir den Nordwind und das gute Wetter nutzen mussten, um weiter nach Süden und am besten schon um die Halbinsel Stad zu kommen. Stad ist einer der wenigen Punkte an der norwegischen Küste, an der man keine Wahl hat zwischen Schären und See, man muss auf die See hinaus um Stad zu runden. Eine massive, hohe, felsige Halbinsel streckt sich hier weit raus ins Meer. Steil abfallende Felsen bilden ein radikales Kap, das nur bei günstigen Bedingungen gerundet werden kann, weil das Kap alle Wettereffekte verstärkt. Nach dem Durchzug des Tiefs wäre hier mit meterhohem Seegang zu rechnen, was selbst bei günstigen Windbedingungen eine Umrundung des Kaps unmöglich machen kann.
Am späten Nachmittag erreichten wir schließlich unser neues Tagesziel, eine kleine Bucht, von mehreren Schären umschlossen, Borgarøya. Dort gibt es einen Schwimmsteg, den der Segelklub einer nahegelegenen größeren Stadt gebaut hat. Ein wirklich schöner Ort. Weil wir nicht so spät dort waren und ich trotz Müdigkeit mal wieder Lust auf Fisch hatte, und auch Lust auf Angeln, warf ich die Angel noch ein wenig aus. Hatte aber nur Pech, verlor zwei Blinker und angelte eine Qualle, die ich dann mühsam vom Haken klauben musste. Danach war ich wirklich erschöpft, die Müdigkeit der Fahrtnacht schlug gut durch, ich ließ das Angelzeug im Cockpit liegen und legte mich schlafen. Schlief auch wunderbar bis elf Uhr am nächsten Morgen. Beim Frühstück erzählte Lea, die schon früher aufgestanden und ein wenig durch die Gegend gelaufen war, von einer Begegnung mit drei merkwürdigen Leuten, die am frühen Morgen mit einem kleinen Boot gekommen waren. Sahen irgendwie fertig aus, nervös, viel rauchend. Ein junger Typ und eine junge Frau, er ausgemergelt mit Armeejacke überm T-Shirt, sichtlich frierend, sie noch etwas besser genährt, mit schmutzigen Klamotten. Ihr Begleiter war ein mittelalter Typ, um die 40, der beim Boot der drei geblieben war. Sie benutzten die öffentlichen Toiletten, die zum Steg gehören (Borgerøya ist ein Ausflugsort, es gibt auch einen kleinen Grillplatz), und fuhren dann wieder ab.
Wir haben das auch in Rørvik gesehen, das nicht so nette und herausgeputzte Norwegen. Die Häuser ein wenig heruntergekommen, loser Putz, abblätternde Holzfarbe, die Spuren von zuviel Zigaretten und Alkohol in den Gesichtern der Leute, die an dem Sonntag vor ihren Häusern saßen oder auf der Straße unterwegs waren, abgerockte Klamotten, zum Teil aus Coolness, zum Teil weil neue Sachen teuer sind, Rost an den Karosserien von Kleinwagen, die ihr end of life in anderen Gegenden schon längst erreicht hätten. Aber diese Gegend war nicht so sehr Elend wie die drei Gestalten mit ihrem kleinen Boot, die auf der schönen Sommerinsel -- um die Bucht liegen eine Reihe von Sommerhäusern -- deplatziert wirkten. Man muss das erstmal zusammen bringen, diese wunderschöne Natur, die Berge, das Meer, und ein menschliches Elend, das hier eben doch aus den mittleren industriellen Ballungen entsteht, wie sie die Gegend, in der Borgerøya liegt, auszeichnet. Neben kleineren Städten sind auf der Fahrt durch die Fjorde und Schären hier und da Fabriken zu sehen, das meiste Fischverarbeitung, ein bisschen Ölindustrie. An die Felsen gebaut steht dann da eine Fabrik, und davor liegen zwei oder drei große Hochseetrawler, die hier ihren Fang abladen. Laut Revierhandbuch wird hier für den Weltmarkt produziert, man exportiert vor allem nach Europa und Asien. Und wo Industriearbeit ist, ist auch Ausbeutung und Elend. Klingt mir selbst zu einfach, aber eine ausgedehnte kulturgeschichtliche Analyse schaffe ich hier nicht (woanders vermutlich auch nicht).
Die Geschichte ging jedenfalls ärgerlich zuende, als ich nämlich nach dem Frühstück an Deck kam, war meine Angel weg. Die drei Leute waren die einzigen Besucher gewesen, wir hatten die Nacht über allein am Steg gelegen, und von Land hätte in der Nacht kaum jemand kommen können, war ja eine kleine Insel. Lea hatte die drei beim Wegfahren noch mit etwas hantieren sehen. Am Abend zuvor hatte ich noch kurz gedacht: Und was, wenn jetzt jemand kommt und uns was Böses will?

Am frühen Nachmittag brachen wir in Borgarøya auf, motorten trotz guten Winds quer über die Bucht, um zügig durch den Windschatten in Lee der nächsten Insel zu kommen. Zehn Meilen vor Stad wurde der Wind etwas stabiler und wir setzten die Segel. Machten sehr bald gute fünf bis sechs Knoten. Fahren wollten wir so, dass wir spätestens am morgigen Abend in einem besonders gut geschützten Hafen ankommen würden. Auf der Hinfahrt hatten wir nur einen solchen Hafen selbst gesehen, Fedje. Von Stad bis Fedje sind es auf dem Seeweg, also nicht durch die Fjorde, etwas mehr als achtzig Meilen. Und weil das Wetter noch etwa 30 Stunden halten sollte, entschieden wir uns für die Seeoption. Mit etwas Aufregung meinerseits, weil eine der vielen Stimmen in mir recht deutlich sagte: Bist du verrückt? Ein Sturmtief zieht an und ihr begebt euch ohne Not raus auf die Nordsee? Die Gründe für diesen Hopser überwogen aber schließlich. Und ich bin jetzt sehr froh, dass wir nach Fedje gefahren sind. Sicher, weiter innen in den Fjorden wäre der Wind nicht so stark wie hier. Aber wir kannten den Hafen schon und wussten, dass es hier diese Mole gibt, an der wir den Sturm gut würden abwettern können.
Bald schon hatten wir Stad querab. Eine andere Segelyacht, die kurz vor uns ums Kap gegangen war, hielt inzwischen Kurs auf Måløy, in die Schären hinein. Wir setzten Kurs ab aufs nächste Kap. Zunächst kamen wir gut voran, segelten unter Vollzeug bei langsam abflauendem Wind um die fünf Knoten. Aber gegen Abend schlief dann der Wind ein und wir bargen die Segel, starteten den Motor. Auf Wind warten, was wir sonst durchaus gemacht hätten, kam wegen des anziehenden Tiefs nicht in Frage. Trotz eines Zeitpuffers von etwa zwölf Stunden wollten wir so schnell wie möglich in Fedje sein. Und wir haben noch Sprit für etwa zwanzig Stunden motoren im Tank, das sollte also locker ausreichen. Bis Fedje sind es nur noch sechzig Meilen, dafür bräuchten wir unter Motor, also wenn anders als angekündigt kein Wind mehr kommen sollte, zwölf Stunden.
Um Mitternacht übernahm Lea die erste Wache. Das Boot bewegte sich mit Wellen von der Seite eher unangenehm. Ich schlief nicht, sondern machte mich am Plotter mit Ausweichmöglichkeiten vertraut. Wo könnten wir in die Schären einfahren, wo sind mögliche Schutzhäfen, die wir anlaufen können? Das Tief und der schnell abflauende Wind haben mich nervös gemacht. Gegen zwei löse ich Lea ab. Wir legen fest, dass wir erst Segel setzen, wenn wir zuverlässig wissen, dass uns das ausreichend zügig, also mit wenigstens vier Knoten, voranbringt. Der Himmel ist bewölkt und erstmals ist die Nacht wirklich zappenduster. die See ist nicht zu sehen, und diesmal auch kein heller Streifen mehr am Horizont. Nur die Leuchttürme an der Küste und von weit draußen der Widerschein der Bohrinseln dringen durch die Nacht. Ohne Sicht aufs Wasser ist es sehr schwer, die Windstärke richtig einzuschätzen. Kurz bevor es hell wird hebt sich der Wind so stark, dass klar wird: Wir können segeln. Aber Lea schläft noch und ich will sie nicht wecken, bevor ihre Wache anfängt. Eine Stunde mehr oder weniger ist bei einer Fahrt von fast zwanzig Stunden ja dann auch egal. Das Boot fährt unter Segeln zwar deutlich stabiler, aber noch ist die Situation auszuhalten.
Während langsam der Tag anbricht und das Wasser wieder sichtbar wird, steigert sich der Wind innerhalb kurzer Zeit auf fünf Beaufort. Die Wellen sind jetzt auch höher und versperren zum Teil schon die Sicht auf den Horizont. Aimé wird rabiat geschubst. Wir brauchen jetzt Segel. Ich wecke Lea. Sie ist sofort da und kaum restmüde, was mich einigermaßen überrascht, weil wir beide bei diesen Nachtfahrten nicht genug Schlaf kriegen. Wir gehen zusammen an Deck und setzen zuerst das Großsegel. Lea steht am Ruder, ich setze am Mast stehend das Segel. Weil der Wind nicht so wirkt, als würde er bald wieder abflauen, und weil es inzwischen wirklich frisch weht, die Wellen um uns herum regelmäßig Schaumkronen haben, setzen wir das Segel gleich ins dritte Reff. In dem Moment, in dem ich gerade die letzten Handgriffe mache, stirbt der Motor. Ich merke erst gar nicht, was los ist, weil dieser Moment auch sonst der Moment ist, in dem wir den Motor stoppen und erstmal unter Großsegel auf Kurs gehen, um dann das Vorsegel vorzubereiten. Lea sagt, dass der Motor von alleine ausgegangen ist. Mir fährt der Schreck in alle Glieder. Ich betätige den Anlasser, und der Motor springt an. Erleichterung. Aber statt rund zu laufen fängt er an zu stottern und stirbt wieder ab, trotz Gas geben. Entweder der Sprit ist alle oder er hat bei der heftigen Schaukelei trotz der fünfzig Liter, die eigentlich noch im Tank sein sollten, Luft gezogen. Oder er ist aus anderen Gründen kaputt. Klar ist jedenfalls: Der Motor läuft nicht mehr, wir sind auf hoher See, bis zum nächsten Hafen sind es noch dreißig Meilen, dort müssen wir unter Segeln anlegen, ein Sturmtief ist im Anzug.
Manchmal bringen mich solche Situation in einen merkwürdig effizienten Modus. Ich packe die große Genua, die vom Leichtwind am Abend zuvor noch an der Reling hängt, weg, ziehe sie dazu direkt unter Deck, ohne sie vorher ordentlich in den Sack zu packen, weil Wind und Wellen schon zu stark sind, um das große Segel ordentlich zusammenzulegen. (Merke: Nachts heißt Segel bergen Segel wegpacken.) Wir machen allein mit dem Großsegel im dritten Reff vier bis fünf Knoten Fahrt. Ich hole die Starkwindfock an Deck und schlage sie an, und bald sind wir wieder ordentlich besegelt. Wir haben einen etwas raumeren Kurs als Halbwindkurs, und mit der neuen Besegelung drückt uns der Wind mit sechs bis sieben Knoten konstant voran. Weil wir vor einer Leeküste fahren machen wir einen kleinen Luvbogen. Der Wind nimmt weiter zu, und auch die Wellen nehmen weiter zu. Ab und zu erwischt uns eine besonders große und legt uns so weit auf die Seite, dass das aufgefierte Großsegel durchs Wasser schleift. Scary. Aber noch will ich kein Segel wegnehmen. Wir wollen so bald wie möglich nach Fedje. Lea steuert das Boot durch die Wellen und ich plane unter Deck den Landfall und das Anlegen unter Segeln. Nicht einfach, aber wir haben Glück. Beim jetzt beständig wehenden West- bis Nordwestwind können wir Fedje gut anlaufen und auch durch die enge Fahrrinne der Einfahrt bis in den Hafen segeln. Der Steg, an den wir wollen, verläuft auch in der richtigen Richtung, also so, dass der Wind schräg davon weg weht. Wir können also einen Aufschießer machen und sind dann direkt längsseits, haben ein wenig Platz zum Auslaufen, und wenns nicht klappt ziehen wir das Segel schnell wieder hoch und versuchens nochmal. Vorausgesetzt, der Steg ist frei. Was ich sehr hoffe. Ansonsten ist hinter dem Steg noch eine holzverschalte Kaimauer, die auch als Gästesteg genutzt wird. Die ist allerdings problematisch, weil sie ganz hinten, südwestlich, im Hafenbecken liegt, und wir deshalb keinen Raum für den Aufschießer haben. Die Kaimauer müssten wir mit halbem Wind anlaufen, dann eine sehr enge Kurve fahren, um möglichst viel Fahrt zu verlieren, und dann die Restfahrt mit den Leinen bremsen. Riskant.
Als ich nach dieser Planung wieder an Deck komme, hat der Wind weiter zugenommen und weht jetzt mit fünf bis sechs Beaufort. Die Wellen erreichen eine Höhe von zweieinhalb Metern. Von der Seite ist das sehr unangenehm. Aber schon bald können wir abfallen und endlich, endlich mit raumem Wind Kurs auf Fedje nehmen, das noch etwa fünfzehn Meilen entfernt ist. Es ist neun Uhr, aber besonders hell ist es nicht geworden an diesem Vormittag. Der Himmel ist mit Wolken bedeckt, und nördlich und westlich von uns hat sicher Horizont langsam immer weiter eingedunkelt. Das Wetter vertieft sich langsam. für den Tag ist eine Besserung angekündigt, aber auch einzelne Schauerböen. Eine davon, eine ziemlich ausgedehnte, verfolgt uns jetzt also und kommt langsam näher. Etwa zehn Meilen vor Fedje bergen wir deshalb das Großsegel, um etwas Reserve zu haben. In der Schauerbö wird der Wind nochmal auffrischen, und mit beiden Segeln sind wir jetzt schon am Limit. Aimé surft die Wellen runter wie nichts Gutes, und im ganzen System ist viel Druck, das Boot lässt sich nicht so leicht auf Kurs halten. Mit dem Vorsegel allein stablisiert sich das Boot. Die Wellen schubsen nicht mehr so stark, sondern laufen jetzt wegen der geringeren Fahrt ruhig unterm Boot durch. Und mit dem Segeldruckpunkt weiter vorne lässt sich das Boot jetzt auch viel besser auf Kurs halten. Mit der Nervosität im Fahrverhalten schwindet auch meine eigene Nervosität. Ich kann wieder nach links und rechts schauen, sehe, wie die Wellen an den dunklen Felsen von Utvær brechen und weiße Gischt versprühen, sehe in der Ferne die Berge des norwegischen Festlandsockels, und vor uns erscheint langsam die Insel Fedje über dem Horizont.
Die Schauerbö erreicht uns kurz vor der Einfahrt in den Hafen. In der kleinen, nach Osten offenen Bucht vor dem Hafen drehen wir das Boot nur mit dem Vorsegel an den Wind und lassen uns mit langsamer fahrt über die Bucht ziehen, um Leinen und Fender vorzubereiten. Wir sind zu müde und erschöpft, um an die großen roten Fender zu denken, die wir eigentlich auch für solche Situationen an Bord haben. Weil die Teile aufgeblasen zu viel Platz wegnehmen, lagern sie ohne Luft unter Deck. Wahrscheinlich scheuen wir die Mühe und denken deshalb nicht mal daran. Es wird auch so gehen. Ich bin froh, dass wir den Hafen schon kennen und genau wissen, wie und wo wir zwischen den Perches -- den kleinen eisernen Stangen, die hier oft schmale Fahrwasser zwischen Untiefen hindurch bezeichnen -- fahren müssen, wieviel Platz wir im Hafenbecken haben und wo es tief genug ist für uns, um anzulegen, und wo nicht.
In der Einfahrt versuche ich nochmal, den Motor zu starten. Und tatsächlich springt er an! Große Erleichterung. Das ist unter diesen Windbedingungen dann doch einfacher und sicherer. Wir lassen das Segel zur Sicherheit aber noch oben, bis wir im Hafenbecken sind. Und bevor wir es runternehmen können, stirbt der Motor auch schon wieder ab. Also doch unter Segeln. Die Schauerbö schiebt uns schnell durch die Einfahrt, und als wir ins Hafenbecken einfahren, sehen wir, dass die beiden Schwimmstege, die für unser Manöver in Frage kommen, belegt sind. Am vorderen Schwimmsteg liegen zwei Yachten, am hinteren eine, allerdings eine sehr große, die den gesamten Platz belegt. Kurz überlege ich, einfach an der Yacht anzulegen und das Boot dann von Hand zu verholen, verwerfe den Gedanken aber wieder. Lieber nichts kaputt machen. Und der Kai noch hinter dem Schwimmsteg, am südwestlichen Ende des Hafenbeckens, ist frei. Auch wenn es nicht so günstig ist, möglich ist es doch.
Dann geht alles sehr schnell. Mit Rauschefahrt in der Bö sind wir am Schwimmsteg vorbei. Ich hole weit aus, lasse das Boot bis kurz vor den Fährkai fahren, steuere dann an der Südkante der Einfahrt mit halbem Wind entlang. Lea steht am Fall. Der Punkt, an dem das Segel geborgen wird, ist kritisch. Fällt das Segel zu früh, schaffen wir es nicht an den Steg und möglicherweise auch nicht mehr durch den Wind, weil wir ja mit halbem Wind anfahren müssen und keinen Aufschießer auf den Steg zu machen können. Erst ganz am Ende können wir drehen. Bergen wir das Segel zu spät, haben wir zuviel Fahrt und fahren am Steg vorbei gegen die schicke Aluyacht, die am Schwimmsteg direkt davor liegt. Insgesamt sind da nicht mehr als dreißig Meter Platz.
Das Segel fällt, Lea befestigt das Tuch mit einem schnellen Zeising, nimmt dann die Vorleine, und dann sind wir auch schon am Steg, ich lege das Ruder hart Steuerbord, versuche damit etwas Fahrt zu killen, bringe das Boot mit der scharfen Drehung dabei längsseits an den Steg. Lea klettert hoch -- der Steg ist etwa 1,5 Meter über der Bordwand (Tidengewässer!) -- und legt die Vorleine locker über einen Poller, wartet, bis das Boot steht. Bremsen könnte man besser mit der Achterleine, aber gegen den Wind halten kann man das Boot nur mit der Vorleine. Ein Dilemma, das wir zugunsten der Vorleine entschieden haben. Aber jetzt haben wir zuviel Fahrt und kommen der Aluyacht näher, Lea bringt etwas Zug auf die Vorleine, der Bug dreht zum Steg und macht mit der Bordkante einen nicht ganz sanften Einschlag in die Holzverschalung. Dann stehen wir. Ein kleiner Abdruck am Steg, am Boot ist nichts zu sehen, wir machen die Leinen fest. Ein Mann von der Aluyacht nimmt die Achterleine an, das Schiff kommt aus Holland und ist auf dem Rückweg. Wir sind jetzt erstmal hier fest. Es ist halb elf Uhr morgens und wir habens geschafft. Feierabend. Frühstück.

09. Aug. 2016

Liten Kuling -- Stiv Kuling
Jetzt sind wir wirklich auf dem Rückweg. Und haben es eilig. Niemand mit Zeit und Verstand fährt bei sechs bis sieben Beaufort gegenan. Wir wussten, worauf wir uns einlassen, der Wetterbericht hatte den kleinen Starkwind oder kleinen Sturm auch angekündigt: zeitweise liten kuling aus Südwest. Nach Südwesten wollten wir. Nach zwei Tagen mit wenig Wind hatten wir uns auf Wind gefreut. Liten kuling sind sechs Beaufort. Für Aimé eigentlich kein Problem, solange die Wellen nicht zu hoch sind. Und solange aus dem kleinen Starkwind kein richtiger Starkwind wird.
Eigentlich begann die Fahrt heute schon am Abend zuvor. Weil wir recht früh unser Tagesziel erreicht hatten, fuhren wir noch eine Stunde weiter und ankerten in einer Bucht, die ich im Norske Los -- das ist das sehr detaillierte offizielle Revierhandbuch des norwegischen Seekartenamts -- gefunden hatte. Harbaksvika, die Bucht, ist nach Süden und Südwesten prima geschützt. Aber nach Nordnordwest ist sie sehr weit offen. Windtechnisch war das kein Problem, weil in der Nacht der Wind schon aus Süden blies, aber durch den Schwell, der von See seinen Weg durch die Schären findet, und durch die Wellen vorbeifahrender Schiffe, lagen wir sehr unruhig.
Wegen der Pläne für den folgenden Tag war ich aufgeregt und konnte nicht gut einschlafen, wachte dann, als der Wind schon zunahm, immer wieder auf. Um sechs klingelte der Wecker. Es blies unglaublich böig und regnete in Strömen, die Sicht war so schlecht, dass wir kaum die Felsen um die Bucht sehen konnten. Kein Wetter um loszufahren.
Gegen zehn Uhr klarte es auf. Schnelles Frühstück, dann Kartenarbeit mit den aktuellen Wetterberichten, um zu entscheiden, ob wir den ursprünglich geplanten Weg außen an den Schären entlang und bis in einen vierzig Seemeilen Luftlinie entfernten Hafen noch schaffen wollen oder lieber innerhalb des Schärengürtels mühsam hundert Steine umkreuzen, dafür aber weniger Seegang und etwas weniger starken Wind haben, außerdem verschiedene Anlaufmöglichkeiten.
Wegen der Starkwindvorhersage und weil es schon spät war, entschieden wir uns für den Schutz der Schären, ohne hohe Wellen kreuzt es sich einfach angenehmer. Die Fahrt verlief auch gut, gegen Mittag kam die Sonne raus, es wurde ein herrliches Segeln inmitten einer kargen Fels- und Schärenlandschaft. Herrlich. Wir segelten mit unserer Starkwindfock und dem Großsegel im dritten Reff gute fünf Knoten hoch am Wind, konnten einige Strecken sogar anliegen. Erst gegen Nachmittag drehte der Wind etwas weiter südlich und wir mussten durch die engen Fjorde und Sunde aufkreuzen. Was vor allem anstrengend für die Navigation ist, die Lea übernommen hatte. Etwa zehn Meilen vor unserem Ziel, Uthaug, frischte der Wind weiter auf und wehte mit konstant sieben Beaufort. Wir segelten entlang einer Leeküste, keine halbe Seemeile vom steinigen Ufer, entlang einer schmalen Fahrrinne, von vorne kommt ein großes Schiff, von hinten kommt ein großes Schiff -- das war der Moment, an dem ich dachte: Warum zum Teufel sind wir denn heute losgefahren? Anstatt im Hafen oder vor Anker zu bleiben und den Tag zu genießen.
Wir kreuzten uns ein kleines Stück von der Küste frei und wechselten die Starkwindfock gegen die Sturmfock. Anfangs waren wir damit noch langsam, aber schon bald frischte der Wind noch weiter auf und Aimé segelte mit so wenig Tuch wie selten wieder gute vier Knoten gegenan. Bei Starkwind wird irgendwann der Wendewinkel immer schlechter, weil das Boot nicht mehr so hart am Wind zu halten ist. Die Segel müssen etwas offener gefahren werden, um noch Headway gegen Wind und Wellen zu machen.
Der Himmel zog sich zu, die Wolken verdichteten sich zu ausgedehnten Schauerböen, die uns ordentlich auf die Seite legten. Die Wellen wurden größer und wuschen jetzt immer wieder übers Deck. Wir blieben gut gelaunt, es waren die letzten zwei Meilen, bevor wir dann endlich endlich, am Ende des Tages, für zwei kurze Meilen nochmal dreißig Grad abfallen konnten und mit Rumpfgeschwindigkeit, 7,5 Knoten, auf den Hafen zuliefen. Der Hafen von Uthaug ist glücklicherweise recht weitläufig, sodass wir in den Hafen segeln konnten. Mussten wir auch. Mit unserem Motor wären wir kaum gegen die hohen, steilen und schnell laufenden Wellen angekommen. Ganz zu schweigen davon, dass das Bergen der Segel ein Affront gewesen wäre. Segelnd ging die Einfahrt also leichter. Nach der Einfahrt ein Aufschießer und im ruhigen Wasser dann entspannt einpacken. Der Fischer, der direkt nach uns einlief, trat kurz aus seinem Haus aufs Seitendeck und grüßte uns.
Wir haben keinen Windmesser an Bord, aber der aktualisierte Wetterbericht hatte die Winddaten für den Abend nochmal nach oben korrigiert auf 30 Knoten Wind, oder stiv kuling, wie das auf norwegisch heißt. Das finde ich jetzt natürlich wieder total abenteuerlich. Ich hab mir aber auch sehr fest vorgenommen, mir bei der nächsten Starkwindvorhersage genau zu überlegen, ob das jetzt sein muss. Oder eben lieber nicht.

Am nächsten Tag: Der Sturm hat sich in der Nacht ausgeweht, jetzt scheint wieder die Sonne, draußen ist Flaute. Wir fahren trotzdem los, müssen weiter, wollen weiter. Nicht zuletzt wegen der Düsenjets, die hier knapp über unserer Mastspitze ihren Landeanflug machen. Nicht weit von hier ist der wichtigste Stützpunkt der norwegischen Luftwaffe. Merkwürdig, für Pazifisten übel, andererseits lustig: Wie hier alle zwanzig Minuten das Dröhnen der Jets die postkartenidyllische Stille zerreißt.

03. Aug. 2016

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