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Starkwind und Sturm überm Skagerrak
Skagen war am Ende doch eine sehr schöne Station. Einmal weil der Ort einfach mythisch ist. Ein Land's End, eine Sandlandzunge, die immer schmaler wird, bis sie irgendwann dort ins Wasser läuft, wo sich Ostsee und Nordsee treffen. Man kann noch ein ganzes Stück durch knietiefes Wasser waten und spüren, wie das Wasser aus dem Atlantik in die Ostsee läuft. Manchmal wohl auch umgekehrt. Als ich hineingewatet bin in dieses Aufeinandertreffen, da setzte die Strömung ostwärts. Seepflanzen trieben an meinen Füßen vorbei, die Wellen schwappten bis über die Knie. Ein Westwind der Stärke sechs, mit Regen durchsetzt (weswegen wir auch im Hafen geblieben waren, trotz Reisefieber).
Auf dem Weg zur Spitze kommen wir an mehreren Bunkern vorbei. Auf einem steht groß: Zimmer frei. Auf deutsch. Scherzbold. Neben den unangenehmen WWII-Implikationen ist das andererseits auch lustig, weil in Skagen der Wille zum Ferienparadies in der Einkaufs- und Kneipenmeile und mit den vielen Ferienwohnungen sehr spürbar ist. Aber die Ferienwohnungen stehen leer, erstaunlich viele Häuser sind zu verkaufen, und außer an den Orten, die Besucher anziehen -- Kneipen rund um den Yachthafen, Einkaufszone, der Strand zwischen einem großen Parkplatz und Skagens Odde (die Landspitze) --, ist in der Stadt nicht viel los. Man sieht kaum Leute. Auch von den vielen kleinen Fischerbooten fahren nur wenige aus dem Hafen während wir da sind, was aber auch am Wetter liegen kann. Neben den kleinen Fischerbooten liegen in den größeren Hafenbecken auch riesige Hochseetrawler, Fabrikschiffe, die den Fang an Bord direkt verarbeiten und entweder tieffrieren oder eindosen. Man hat in Skagen also alle versammelt, vom kleinen Fischerboot ohne Aufbauten mit seinen paar Fischerfähnchen über den Hochseefischer von zwölf Metern mit seiner Sturmverschalung aus Blech vorne am Bug bis zu den riesenhaften Hochseetrawlern, die mehr als hundert Meter lang und höher als ein fünfstöckiges Haus sind. Wobei der Sprung vom Hochseefischer zum Fabrikschiff doch etwas größer ist als vom kleinen zum großen Fischerboot. Einfach vom Gefühl her. Schiere Größe. Godzilla, Ernie und die Maus. Oder so ähnlich.
Am Abend nach unserem Spaziergang zur Odde checken wir das Wetter. Wir wollen los und den großen Schlag machen, so bald wie möglich. Das Tief über Südnorwegen beschert uns westliche Winde Stärke sechs. Das Wetterrouting berechnet für die Kurse nach Mandal oder nach Kristiansand einen Kurs mit 100 Prozent hoch am Wind. Wir beschließen zu warten. Am nächsten Tag sieht es nicht besser aus. Der Durchzug einer Warmfront bringt zwar südlich drehenden Wind, aber auch sieben bis acht Beaufort, und am Westausgang des Skagerraks, also dort, wo wir hinwollen, eine See von drei Metern. Für einen Halbwindkurs bei stürmischem Wind definitiv zuviel. Also warten wir weiter. Besuchen das Kunstmuseum und die schwedische Sjömanskirken.
Die Dauerausstellung im Museum ist den Malern der Künstlerkolonie Skagen gewidmet, die im späten 19. Jahrhundert und bis in die zehner Jahre hier aktiv war. Die Künstler werden als Vorläufer einer Moderne gewertet, die sich in einem neuen Realismus und Naturalismus äußert. Auf den Bildern sind zahlreiche Motive von Fischern und Fischerei, Strandbilder, Haushalt, Dorfleben. Um 1900 war Skagen noch ein abgelegener und wenig populärer Ort. Erst sehr spät fand der Tourismus seinen Weg hierher, aber da waren die Künstler schon wieder weg. Die suchten in Skagen gerade die Abgeschiedenheit und die Entfernung von der Akademie, die sich sowohl in Fahrstunden ausdrücken ließ als auch ästhetisch realisiert werden sollte. Sehr schön ist die Hängung in den Räumen: Das Museum hat sich an den frühen Pariser Salons orientiert, ein Kunstmarkt, auf dem möglichst viele Bilder auf möglichst engem Raum gehängt wurden. Es gibt im Museum also keine Ordnung nach Namen und Werken, sondern nach Größen. Zwischen die großformatigeren Bilder schieben sich viele Kleinformate, es gibt kaum Einzelbilder, und man muss sich das kleine Schild am Bild anschauen, um den Namen des Malers zu erfahren. Angenehme Entsakralisierung der Bilder und eine schöne Möglichkeit, Ähnlichkeiten und Unterschiede in Motiven, Farbgebung und Zeichnung zu entdecken.
Ein Nachbar, der mit seinem Boot im Hafen in der Nähe lag, hatte mir am Tag zuvor vom Museum erzählt, als wir so über das Wetter plauschten. Und kam dann etwas überraschend darauf zu sprechen, dass ihn besonders die Bilder der toten Seemänner beeindruckt haben, weil das als Motiv sonst in der ganzen Marinemalerei kaum zu finden sei. Natürlich sprang bei mir sofort die Deutungsmaschine an, psychologisch, und das nicht nur in Bezug auf meinen Gesprächspartner, sondern auch auf mich gerichtet, weil mich die toten Seemänner dann natürlich auch sofort total interessierten. Es gab dann in der Ausstellung aber nur zwei. Einer, der gerade aus dem Wasser getragen wird, ohne Schuhe, nur mit abgerissenem Hemd und Hose bekleidet, mehr Schiffbrüchiger denn toter Seemann, weil die Utensilien, die die lebendigen Seemänner auf den Bildern auszeichneten -- hohe Seestiefel, Gummihose, Öljacke --, fehlten. Der andere tote Seemann war ein Fischer, aufgebahrt in voller Montur.
Der Besuch in der schwedischen Sjömanskirkan am späteren Nachmittag war vielleicht deshalb nur angemessen. Der Zusammenhang mit den Fischerbildern im Museum war aber keine Absicht. Zur Kirche gehört ein großes Café, das offensiv mit freiem Internetzugang wirbt. Betrieben wird das Café von Freiwilligen, die jeweils für eine Woche aus Schweden zusammen mit einem oder einer Geistlichen anreisen. Seit 2010 gibt es keinen festen Pfarrer mehr hier.
Wir werden von einer Gruppe älterer Damen aufs herzlichste emfpangen und bekommen Café und selbstgebackene Kaneelbulla dazu. Herrlichkeit. Eine der Damen, Karin, setzt sich zu uns und erzählt ein bisschen. Die Pfarrerin kommt an unserem Tisch vorbei, fragt kurz woher und wohin, empfiehlt uns eine Besichtigung des Kirchenraums und widmet sich dann an einem anderen Tisch wieder ihren Papieren. Als sie erfährt, dass wir mit dem Segelboot unterwegs sind, erzählt Karin, dass sie früher auch gesegelt ist, zum Teil auch allein auf ihrem schwedischen Schärenkreuzer. Eine Besonderheit damals, meint sie, die Männer im Hafen hätten jedes Mal mißbilligend den Kopf geschüttelt, wenn sie eingelaufen sei. Männerdomäne Segeln.
Der Kirchenraum ist klein, aber fein und ernsthaft. Jeden Sonntag findet hier ein Gottesdienst statt, und auch sonst macht es den Anschein, als ob es hier, oben in der Kirche und unten im Café, ein lebendiges Gemeindeleben gibt. Während des Gesprächs warte ich die ganze Zeit darauf, dass Karin irgendeine missionarisch gefärbte Frage stellt, aber es kommt keine einzige. Als ehemaliger Schüler einer evangelischen Schule habe ich verschiedenste religionspädagogische Strategien kennen gelernt, aber wenn Karin eine hat, dann ist sie so subtil, dass ich nichts merke. Abgesehen vielleicht davon, dass alles, was passiert, wirklich sehr welcoming ist.
Den Tag über schon hat es begonnen zu regnen, der Wind hat auf Süd gedreht und langsam zugenommen. Gegen Abend weht es überm Hafen mit sieben Beaufort, die Warmfront zieht durch. Wir liegen im Windschatten von fünf riesigen Dieseltanks und der MS Europa, ein Kreuzfahrtschiff, das direkt bei den Tanks festgemacht hat. Industriehafen galore, und die wenigen Kreuzfahrer, die ihr Schiff an diesem unwirtlichen Ort zu Fuß verlassen, wirken mir ihren Regenschirmen etwas verloren zwischen den Fischerbooten, Schuppen und Industriebetrieben.

Am Abend mache ich eine große Wetterlage mit Seewetterberichten vom deutschen, schwedischen, norwegischen und dänischen Wetterdienst, dazu noch die Grib-Daten vom Wetterdienst der USA. Alle sagen übereinstimmend für den Vormittag West bis Südwest Stärke 4-5, später vorübergehend zunehmend 6 voraus, für die Nacht süddrehend 4-5. Dazu eitel Sonnenschein den ganzen Tag. Fast wie Rückseitenwetter, nur eben mit Wind aus Südwest. Wir wollen los und beschließen, die Überfahrt zu machen und eine möglichst westlichen Kurs hoch am Wind anzulegen und dann zu sehen, wo an der norwegischen Küste wir ankommen. Die Distanz ist die kürzestmögliche für diesen Schlag, etwa achtzig Meilen über die offene See. Lieber wäre ich mit günstigeren Winden direkt bis Mandal ganz an der Südspitze gesegelt, aber nach vier Tagen in Göteborg und vier Tagen in Skagen ist es wirklich Zeit, endlich voranzukommen. Fünf bis sechs Beaufort und 1,5 Meter Welle, das sollte für uns gut zu schaffen sein.
Am nächsten Morgen stehen wir um fünf Uhr auf, frühstücken, tanken nochmal Wasser, schlagen das neue Vorsegel an. Ich checke nochmal den Seewetterbericht. Weiterhin anfangs fünf, später zunehmende sechs Beaufort, in der Nacht abnehmend vier bis fünf, süddrehend. Und eine Starkwind- und Sturmwarnung nur fürs Skagerrak, für sonst kein anderes Seegebiet. Das wird so schlimm nicht sein, denke ich, höchstens in Böen vorübergehend sieben Beaufort, aber das stecken wir weg. Solange das nicht dauerhaft ist und die Wellen nicht zu hoch werden, können wir auch bei starkem Wind recht hoch am Wind noch vier bis fünf Knoten machen. Das schaffen wir gut.
Eine Fehleinschätzung, wie sich im Lauf des Tages noch zeigen sollte, was das Wetter und was das schaffen angeht.

Gegen acht Uhr passieren wir die innere Hafeneinfahrt und setzen im großen Vorhafen das Großsegel im dritten Reff und die neue Genua 3, die passenderweise genau 33 Quadratmeter groß ist und nach Wunsch sehr hoch, kurz und flach geschnitten ist, sodass wir die Schot innerhalb der Wanten führen und das Segel sehr dicht und flach ziehen können. Gut für einen Kurs am Wind bis etwa sechs Beaufort. Und den werden wir in den nächsten zwanzig Stunden fahren.
Hinter der Landzunge weht der Wind deutlich schwächer, sodass wir ausreffen und das Großsegel im ersten Reff stehen lassen. Mit Wind von hinten -- wir müssen noch um Skagens Odde herum -- und ohne Wellen im Schutz der Landzunge segeln wir, entspannt und froh über den Sonnenschein nach den vergangenen Regentagen, los. Wir passieren das Kap so knapp wie möglich, lassen die beiden Kardinalzeichen an steuerbord. Der Verkehr hält sich in Grenzen, und die Frachter, Tanker und Trawler auf dem Weg zu ihren Hochseefischgründen weichen uns freundlich und sehr rechtzeitig aus.
Am Kap frischt der Wind deutlich auf und wir reffen das Großsegel. Es weht böig und mit der Genua haben wir etwas zuviel Tuch. Aber schon bald lässt der Kapeffekt nach und wir erreichen beständigeren Wind. Langsam baut sich die Windsee auf. Die Wellen sind unbequem steil. Das Wasser ist hier noch nicht tief und der Wind ist etwas stärker als erwartet. Wir tauschen die Genua gegen die 20er Starkwindfock, um etwas Ruhe ins Schiff zu bringen. Mit der Starkwindbesegelung sucht sich das Boot seinen Weg durch die Wellen fast von selbst. Die Sonne scheint, es weht mit guten fünf Beaufort und wir sind auf dem Weg nach Norwegen. Wenn es so bleibt wird das eine herrliche Überfahrt.
Wenn.

Gegen zwölf haben wir die ersten zwanzig Meilen von Skagens Odde nach Norwegen geschafft. Skagen ist achteraus im Dunst verschwunden, andere Schiffe sehen wir auch nicht mehr, um uns herum ist nur noch das offene Meer. Die Windsee hat sich etwas stärker aufgesteilt und schubst uns zwischendurch ein wenig unangenehm herum. Beim Steuern achte ich schon darauf, besonders großen Wellen mit brechenden Kämmen auszuweichen. Ab und zu spritzt Gischt übers Deck. Mit der neuen Sprayhood wird aber wenigstens nur der Rudergänger oder die Rudergängerin nass, alle anderen ducken sich in den geschützten Niedergang. Auch der Wind nimmt jetzt weiter zu, wie angekündigt. Bei sechs Beaufort sind wir mit der Starkwindfock und dem dreifach gerefften Großsegel gut ausgestattet, Aimé schiebt sich mit etwa fünf Knoten durch die Wellen, stoppt nur manchmal ein, wenn wir eine besonders steile Welle schlecht erwischen. Eine Weile lassen wir den Autopiloten steuern, was gut funktioniert. Der Windgenerator liefert ungefähr den Strom, den der Autopilot verbraucht, manchmal etwas mehr, manchmal etwas weniger. Eine runde Sache.
Gegen vier, wir sind inzwischen etwa dreißig Meilen von Skagen und 45 Meilen von Norwegen entfernt, frischt der Wind weiter auf. Die Wellen sind jetzt, im tiefen Wasser (laut Seekarte um die 600 Meter), nicht mehr so steil. Aber sie sind höher geworden, und von "See 1,5 Meter" kann inzwischen keine Rede mehr sein. Im Wellental sehen wir selbst auf der hohen Kante nur noch die ankommende Welle, können nicht mehr über den Kamm hinausschauen. In den Böen legt der Wind den Schaum von den brechenden Wellenkämmen in Streifen. Böen sieben Beaufort. Ich habe das Ruder vom Autopiloten übernommen, und ein Gespür für die Bootsbewegung zu bekommen. Das muss die Starkwindwarnung sein, zunehmend sechs, und Starkwindwarnung in Böen sieben, denke ich. Die Besegelung entwickelt in den Böen inzwischen deutlich zuviel Kraft, ab und zu wird das Seitendeck in Lee ins Wasser gedrückt. Aber wir machen gute Fahrt, und solange das nur in den stärkeren Böen passiert ist es auszuhalten. Und bald sollte der Wind, laut Bericht, auch wieder etwas abnehmen.
Tut er aber nicht. Stattdessen nimmt er weiter zu. Immer noch unter einem strahlend blauen Himmel, im gleißenden Licht, präsentiert sich das Meer als ein wildes. Die Wellen erreichen inzwischen zweieinhalb Meter, zwischendurch brechen die Kämme. Steuerfrauen und -männer weichen diesen besonders hohen und steilen Wellen so gut es geht aus. Immer wieder fliegt Gischt übers Deck. Der Druck ist für die Starkwindfock zu groß, und wir bergen das Vorsegel. Beigedreht, mit dreifach gerefftem Großsegel, wird das Boot sofort ruhiger. Aber die hohen Wellen machen den Segelwechsel etwas beschwerlich. Und ich habe inzwischen Sorge, dass der Wind noch weiter zunehmen könnte. Noch machen wir gegenan Strecke gut, aber viele Reserven haben wir für diesen Kurs nicht mehr.
Am wackersten von allen hält sich das Boot. Immer wieder schiebt es sich die Wellen hinauf bis über den Kamm, und selbst wenn der Bug in ein besonders steiles Wellental fällt ist das Aufkommen weich. Nur manchmal schlägt eine Welle knallend gegen den Rumpf. Wir haben die Schoten ein wenig geöffnet, um Geschwindigkeit im Schiff zu halten. Lässt sich die Begegnung mit einem gischtenden Wellenkamm nicht vermeiden, können wir deutlich anluven, damit uns die Welle nicht quer drückt. Wobei selbst dann das Boot zwar sehr weit krängt, aber weiter seinen Weg findet.
Inzwischen weht der Wind konstant mit sieben Beaufort. Der Winddruck unterm Segel zerstäubt die Gischt und weht sie wie Dampf aus groben Tropfen in Lee am Cockpit vorbei. Stellenweise hebt der Wind von alleine die Kämme von den Wellen. Ein entspannter Rundumblick, um das Panorama zu genießen, gelingt mir nicht mehr. Ich frage mich, was wir konkret machen. Fock runter und beidrehen, um abzuwarten, bis das durchgezogen ist? Ablaufen nach Larvik, wo man auch bei ungünstigem Wetter und nachts einlaufen kann? Oder weiter gegen diesen stürmischen Wind ankämpfen mit der Hoffnung, in Landnähe etwas Entspannung zu finden? Unsere ungefähre Ankunftszeit an der Küste ist zu allem Unglück trotz Mittsommernacht in den dunklen Stunden des Tages. Richtig dunkel wird es nicht, aber doch zu dunkel, um durch schmale, nur mit unbefeuerten Baken und Stangen bezeichneten Fahrwassern in die Schären einzulaufen. Nach fast fünfzehn Stunden unterwegs ist sind Skipper und Crew auch nicht mehr im besten Zustand. Wo sie zuschlägt raubt die Seekrankheit die Kräfte, die Koordination und die richtige Selbsteinschätzung. Unten am Kartentisch frage ich mich, was wir hier überhaupt machen. Schwere Selbstvorwürfe formulieren sich in meinem Kopf, begleitet von Angstvorstellungen. Was, wenn jetzt noch was kaputt geht? Oder schlimmer noch jemandem etwas passiert? Nie im Leben hätten wir mit einer Starkwind- und Sturmwarnung und Gegenwind rausfahren dürfen. Was habe ich mir dabei gedacht?
Mit einiger Anstrengung schiebe ich diese Gedanken beiseite und widme mich der Situation. Wie ist unsere Lage? Welche Möglichkeiten haben wir? Bis zur Küste sind es noch 25 Seemeilen hoch am Wind mit einem Wind, der in den Böen Sturmstärke erreicht und noch nicht so wirkt, als würde er sich in den kommenden Stunden legen. Bis Larvik sind es fünfzig Seemeilen auf raumem Kurs, was deutlich angenehmer zu segeln wäre, aber auch sehr weit weg ist. Andererseits ist bei Dunkelheit ein Landfall nur mit einem befeuerten Hafen zu machen. Uns bleiben deshalb drei Möglichkeiten. Entweder der Wind dreht bald etwas südlich, wie angekündigt, und wir können Arendal anlaufen, das wäre der best case. Oder wir erreichen die Küste irgendwo anders, drehen für ein paar Stunden bei und machen den Landfall bei Tagesanbruch. Und wenn wegen der hohen Wellen ein Einlaufen in die Schären an dieser Stelle nicht möglich ist, segeln wir mit dem Wind nordwärts bis zum nächsten tiefen Fahrwasser.
Das heißt noch weiter gegen den Wind. Obwohl die heftigen Bootsbewegungen dagegen sprechen, ist doch auch klar, dass alle an Bord schon jetzt sehr geschwächt sind und wir möglichst bald Ruhe brauchen, vor Anker oder in einem Hafen. Alle Seekranken werden dick eingepackt, angeleint sind wir alle schon seit einer Weile wegen des hohen und ruppigen Seegangs. Ein Teil der Crew reaktiviert sich nach den Attacken, andere driften in das nächste, passive Stadium der Seekrankheit. Ich bin selbst zu sehr beschäftigt mit der navigatorischen und seglerischen Situation, um etwas dagegen zu tun und gebe deshalb keine aktive Hilfe mehr, mit dem Wissen, dass wir in einigen Stunden in ruhigeres Wasser kommen werden, wenn wir die Küste erreichen.
Als wir den Fahrweg für die Großschiffahrt kreuzen, der weit vor der Küste verläuft, kommt ein Frachter in Sicht. Für unseren Landfall in oder bei Arendal wäre ein genauer Wetterbericht hilfreich. Der Prognose, die von 6 Beaufort und später abnehmendem Wind sprach, kann ich gerade nicht mehr glauben. Also funken wir den Frachter an, der sich nach dem fünften Versuch auch tatsächlich meldet. Mein erstes ordentliches Funkgespräch von Schiff zu Schiff immerhin. Leider hat der Offizier an Deck auch keinen Wetterbericht, der den aktuellen Wind vorhersagt.
Wir setzen also darauf, dass der Wind in Landnähe etwas abflaut. Und eigentlich sollte in Landnähe auch der Seegang etwas abnehmen. Und in der Tat schwächt sich der Wind zehn Meilen vor der Küste etwas ab. Wir machen mit Sturmfock und Groß im dritten Reff immer noch vier bis fünf Knoten, und das Boot holt immer noch weit über, wenn eine steile Welle uns erwischt und eine Bö einfällt. Aber die Spitzen sind nicht mehr so heftig, dass sie mich an mögliche Reserven denken lassen, die wir noch aktivieren könnten (Trysegel, Beidrehen, Treibanker). Der Wind dreht jetzt auch etwas nach Süd, sodass wir Arendal anliegen können. Gegen eins kommt der Leuchtturm in Sicht und ich bin wirklich dankbar, dass wir diesen Weg schlussendlich fahren können. Alles andere wäre umständlich und schwieriger gewesen.
Weil alle von der Fahrt sehr geschwächt sind und die Einfahrt bei Dunkelheit trotz guter Befeuerung nicht ohne Schwierigkeiten ist und ein genaues Navigieren und Steuern verlangt, drehen wir das Boot bei und warten, bis sich die Dämmerung, die die ganze Zeit im Norden sichtbar ist, weiter nach Osten verschiebt und der Himmel wieder heller wird. Als der große Felsen, auf dem der Leuchtturm steht, schattenhaft sichtbar wird, nehmen wir Kurs auf die Einfahrt ins Fahrwasser. Der Wind nimmt immer weiter ab, und als wir in Arendal einlaufen, weht es nur noch mit zwei bis drei Beaufort. Die Sonne geht auf. Wir legen am erstbesten Steg an, machen das Boot fest, spannen die Fallen ab, versorgen die Segel, schalten die Heizung ein, um das Boot innen ein bisschen zu trocknen, und fallen dann in die Kojen.

Inzwischen, nach einem Ruhetag heute, sind alle wieder einigermaßen wohlauf. Die vollständige Erholung wird noch ein paar Tage dauern.
In der Rückschau auf diese Fahrt übers Skagerrak haben wir heute entschieden, nicht weiter nach Island zu segeln, sondern an der norwegischen Küste zu bleiben und dort weiter nach Norden zu fahren. Das Boot scheint bereit für eine Ozeanreise nach Island, aber wir sind es im Moment noch nicht. Wir sind auf dem Weg dahin, aber die Zeit, die uns von der Saison her noch bleibt, reicht nicht aus für ein ausreichendes Training. Und nicht um alles in der Welt setze ich und setzen wir unsere Gesundheit und unser Wohlergehen aufs Spiel.

Neues und altes Ziel ist deshalb: der Polarkreis. Bis dahin sind es noch etwa achthundert Seemeilen, alles entlang der Küste. Machbar. Aber mal sehen. Es kommt am Ende vielleicht doch wieder anders.
to be continued

23. Jun. 2016

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