Ozeansegeln. Reiseaufzeichnungen

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Lange bin ich nicht in diese Reise reingekommen, und auf eine merkwürdige Weise bin ich zwischendurch immer noch seltsam detached. Vielleicht gelingt es mir deshalb nicht, regelmäßiger zu schreiben, obwohl ich mir das anfangs vorgenommen hatte. Seit einigen Tagen sind wir wieder auf der Rückreise, haben den Polarkreis in südlicher Richtung überquert und wollen jetzt zügig nach Süden kommen. Gestern sind wir mit einem langen Schlag bei gutem Wind aus nördlicher Richtung schon weit gekommen. Aber jetzt macht uns das Wetter einen Strich durch die Rechnung. Schon gestern bei der Einfahrt in den Fjord kurz vor Roervik (o mit Strich durch) zog ein Gewitter vor uns von Land auf See, mit Blitz und Donner, die wir Gott sei Dank nur aus der Ferne sahen. Für heute waren auch Gewitter angesagt, deshalb sind wir in der Ankerbucht geblieben, wo wir gestern spät (gegen zwei Uhr nachts) angekommen sind. Morgen auch wieder Schauer- und Gewitterböen. Und übermorgen auch. Die beiden Tiefs, die hier langsam und unberechenbar die Küste hoch und runter ziehen, werden uns in den kommenden Tagen das Fahrtenleben schwer machen.

Wie dem auch sei. Nachfolgend kommt der erste Teil des Berichts von unseren Abenteuern seit der Entscheidung, über Nacht vom Festland aus hoch bis nach Sula zu fahren. Sula liegt am äußersten Ende eines Archipels, das von der Küste aus weit nach Nordwesten in die Norwegische See hinaus reicht, und ist eine der westlichsten ganzjährig bewohnten Siedlungen Norwegens.

Nachtfahrt

Gegen 15 Uhr kamen wir aus Hamsaroeya schließlich los. Motorten ein Stück, quer über die Bucht in den Sund hinein, und setzten dann die Segel. Wenig Wind, und, wie üblich auf dieser Reise, von vorn. Das neue flach geschnittene Vorsegel bringt uns aber gute Höhe und mit drei bis fünf Knoten kreuzen wir entspannt bis zur Ausfahrt. Schon an der ersten Kardinaltonne, die noch ein Stück in den Schären liegt, spüren wir die langen Bewegungen der Nordseedünung.
Gegen neun Uhr abends lassen wir die letzte Kardinaltonne an Steuerbord. Jetzt liegen noch etwa siebzig Meilen offene See vor uns, bis wir das kleine Archipel erreichen, in dem die Insel Sula liegt. Der Wind weht inzwischen mit vier Beaufort aus Norden und wir haben das Großsegel ins erste Reff gesetzt. Die Wellen einer alten Dünung laufen jetzt mit 1,5 bis zwei Metern unter Aimé durch. Dazu kommt eine Windsee von einem halben bis einem Meter. Im besten Fall steigt Aimé die langen Wellen sanft hinauf und gleitet auf dem Wellenrücken sanft wieder hinunter. Immer wieder aber trifft sich eine der steileren Windseen mit einer langen Dünungswelle, und just auf dem Wellenkamm oben wird der Bug nochmal um einen guten halben Meter angehoben, bevor er dann mit einem Ruck ins dahinter liegende, zwei Meter tiefe Wellental fällt. Der seetüchtig geschnittene Rumpf taucht dann zwar nicht gerade sanft ein, aber er schlägt auch nicht auf, wie man es von den meisten Serienyachten kennt. Nur ab und an gibt es eine kleine Erschütterung, wenn der Abhang doch zu steil ist.
L. und ich haben uns in Wachen eingeteilt, zwei Stunden sind wir jeweils oben an Deck, beobachten die Situation, den Plotter, die Segelstellung. Ich übernehme die erste Wache von zehn bis zwölf, weil ich sowieso noch nicht schlafen kann. Der Himmel ist bedeckt, trotzdem wird es nicht dunkel. Das Meer ist in ein pastellfarbenes Zwielicht getaucht. Der Seegang ist jetzt regelmäßiger, und das Boot zieht am Wind seine weite Bahn. Ab und an drückt uns eine Bö auf die Seite, schwappt Seewasser übers Vorschiff, insgesamt aber ist das Wetter ruhig.
Eine halbe Stunde vor Mitternacht taucht in der Ferne an Backbord ein Kreuzfahrtschiff auf. Ich sehe es von weitem hell erleuchtet, lange bevor das AIS-Signal auf dem Kartenplotter sichtbar wird. Ein paar Fischer sind unterwegs. Die sind allerdings im Zwielicht nicht gut zu sehen, aber auf dem Plotter kann ich sehen, wie sie vor der Küste langsam ihre Kreise ziehen.
Als Lea ihre Wache antritt bin ich immer noch nicht müde. Es ist das erste Mal seit der fordernden Überfahrt von Skagen nach Norwegen, dass wir uns für längere Zeit auf die Nordsee wagen, oder hier eben auf die norwegische See, den küstennahen Teil des Nordatlantiks. Atlantik. Davon hab ich oft geträumt, vor allem tagsüber, und habe lange Fahrten geplant auf meiner elektronischen Seekarte. Jetzt sind wir da, unterwegs, segeln hoch am Wind an einer Kette von weit ins Meer hinaus reichenden kleinen Inseln und Schären entlang, die auf unserer Leeseite liegen, in einem Gebiet, das uns mit seinen heftigen Wetterwechseln schon oft genug überrascht und gut angestrengt hat.
Anstatt mich schlafen zu legen, hundemüde wie ich bin, setze ich mich an den Plotter und arbeite B-Pläne aus für den Fall, dass der Wind auffrischt. Wir segeln in Luv der Schären und Felsen, und bei konstanten vier Beaufort, die wir jetzt haben, ist das auch kein Problem. Aber bei sechs bis sieben -- und solche plötzlichen Windwechsel haben wir hier schon erlebt -- und einer Strömung, die uns nach Norden versetzt, auf die Inseln und die vorgelagerten Felsen zu, können wir diesen Kurs nicht halten. Kurz überlege ich, ob wir dem Kreuzfahrtschiff folgen sollen, das Kurs auf die Trondheimsleia genommen hat, das breite Fahrwasser, das innerhalb des Schärengartens bis zum Trondheimsfjord und weiter verläuft. Aber wir haben uns nicht ohne Grund entschieden, hoch am Wind nicht nur Strecke nach Norden, sondern auch etwas Höhe nach Westen gut zu machen. Für die nächsten Tage sind weiter nördliche Winde angesagt, Sula ist dafür ein guter Ausgangspunkt. Und nach einigen Tagen mit wenig Wind erfüllt sich in dieser Nacht zumindest unsere Hoffnung, vor der Küste etwas mehr Wind zu finden.
Nachdem ich die schmalen Einfahrten in die Schären in der Karte gefunden und im Hafenhandbuch einige Häfen identifiziert habe, die bei jedem Wetter angelaufen werden können, sind meine freien zwei Stunden fast vorbei. Ich atme tief durch und lausche auf die Geräusche, die das Boot macht. Die Großschot knarzt, wenn sie Winddruck kriegt, außen am rumpf gluckert das Wasser vorbei, ab und an klatscht in Luv eine Welle gegen den Rumpf, die Dirk klopft leise am Großsegel, in den Schapps klackern die Kleinteile im Rhythmus der Wellenbewegung.
Ich ziehe mir die Segelhose an. Drunter trage ich zwei lange Unterhosen, eine etwas dünnere aus Fleece und eine dicke, flauschige aus schweizer Armeebeständen, außerdem noch eine weit geschnittene normale Hose. Unter der gefütterten Segeljacke habe ich noch einen Wollpullover und einen Kapuzenpullover, um den Kopf warm zu halten. Obwohl es nicht ganz dunkel wird, ist es in der Nacht kälter als tagsüber, und im Wind kühlt man sehr schnell aus. Mit der Montur macht es aber viel Spaß.
Oben an Deck, im Cockpit, erklärt Lea mir die Situation: Kreuzfahrtschiff ist weg, zwei Fischer an Backbord müssen weiter beobachtet werden, kommen uns aber wahrscheinlich nicht in die Quere, Wind weht konstant, Kurs ist der gleiche. Na dann gute Nacht. Lea verschwindet unter Deck und legt sich schlafen. Für die Fahrt haben wir das Bett im Salon eingerichtet, auf der Steuerbordseite. Das ist von den Schiffsbewegungen her der ruhigste Platz. Und man kann im Bedarfsfall aktiviert werden, zum Beispiel für Segelmanöver oder navigatorisch schwierige Passagen.
Und während ich Lea unten so ruhig schlafen sehe, denke ich daran, dass hier auf unserer Reise ein übermäßiges Risiko durch nichts gerechtfertigt ist, und dass es richtig war, die Reisepläne umzuschreiben und an der Küste entlang nach Norden zu segeln. Der zweite Gedanke ist, dass wir jetzt aber wieder auf offener See sind, und dass wir diese Entscheidung im vollen Bewusstsein für alle Möglichkeiten von Flaute bis Starkwind getroffen haben, weil wir wissen, dass wir ein seetüchtiges Boot haben, mit dem wir alle Eventualitäten meistern können. Kann Lea deshalb gut schlafen? Und ich eben gerade nicht? Weil ich das noch nicht angenommen habe, weil mir das unbedingte Vertrauen in das Schiff noch fehlt? Vielleicht ist es nicht nur das Vertrauen ins Schiff, sondern auch das Vertrauen in uns, die Besatzung, und vor allem das Vertrauen in mich selbst. Und hierbei weniger das Vertrauen auf meine Fähigkeiten und Erfahrungen als Skipper, sondern meine Fähigkeiten als Bootsbastler und -manager. Ist das Rigg richtig gespannt? Hält der Mast den Druck wirklich aus, obwohl er manchmal die verbotene S-Kurve macht? Bleibt die Hydraulik dicht und wird der Schlupf auf dem Level bleiben und sich nicht verschlimmern? Springt der Motor an, wenn wir ihn brauchen, und bleibt er an und geht nicht mitten in der Hafeneinfahrt aus? Bleibt der Kühlwasserschlauch dicht, obwohl er als Waschmaschinenschlauch nicht notwendig für diesen Zweck entworfen wurde?
Objekte Gründe sind bei solchen Zweifeln zwar nicht restlos überzeugend, aber schon hilfreich: Bis hierher sind wir ohne einen einzigen plötzlichen Schaden gekommen. Klar, das übliche hat sich ergeben: Ein Griff an der Luke achtern ist ein wenig undicht und muss nachgezogen werden, hier und da gibt es ein paar Roststellen, im Dieseltank wohnen ein paar Mikroben zuviel (okay: ein paar Millionen Mikroben), aber alles in allem hat alles gut gehalten, auch bei sehr viel Wind, auch bei massivem Wellengang, und beides von vorn. Dieses Boot ist seetüchtig as can be. Hat es also etwas mit meinem Vertrauen in die Welt und in die Zukunft zu tun? Dem Vertrauen, Dass da nach der Schauerbö, die am Horizont aufzieht und uns erwischen wird, wieder die pastellfarbene Nacht mit ihren vier Beaufort aus Nordwest wiederkehrt, und dass wir dann auch wieder ausreffen können, wenn wir überhaupt einreffen müssen? Das, und die Sicherheit, dass wir schon rechtzeitig einreffen, dass wir aufmerksam genug sind und nicht mehr so häufig überrascht werden, und dass wir, auch wenn wir überrascht werden, beherzt und doch ruhig die Segel reffen, bergen, wechseln werden.
Nachtgedanken. Irgendwann schweifen meine Assoziationen dann weiter und ich denke an alles Mögliche und zwischendurch auch einfach an gar nichts. Müde. Um vier Uhr morgens löst Lea mich ab. Inzwischen ist es wieder hell geworden, bis Sula bleiben noch etwa vierzig Meilen. Ich gehe unter Deck, ziehe meine Segelklamotten aus, lege mich in die Koje und schlafe.
Um halb sieben weckt Lea mich. Der Wind hat abgeflaut und wir machen zuwenig Fahrt. Wir reffen das Großsegel aus. Noch ist Sula nicht zu sehen, und auch sonst ist um uns herum kein Land in Sicht. Es ist immer wieder ein großartiges, aber auch merkwürdiges Gefühl, hier Manöver zu machen. Totale Selbstbezüglichkeit, Selbstgenügsamkeit, frei gewählt und dann zur Notwendigkeit geworden, weil wir hier eben erstmal vor allem auf uns selbst gestellt sind. Da werden dann die Gedanken auch gerne mal groß und selbstbezüglich. Erstmal Kaffee. Danach sieht die Welt wieder etwas konkreter aus. Noch knapp dreißig Meilen bis Sula, am frühen Nachmittag sollten wir dort ankommen. Der Wetterbericht, den wir über Navtex empfangen haben, meldet stabile Wetterlage mit nördlichen Winden zwischen drei und fünf Beaufort.
Gegen Mittag kommen die ersten Felsen in Sicht. Kurze Zeit später schläft der Wind ein. Wir bergen die Segel und motoren die letzten zehn Meilen bis zur Einfahrt in die Schären und weiter bis zum Hafen. Ein wenig erschöpft und glücklich, nach vierundzwanzig Stunden Segeln am Ziel zu sein, navigieren wir zwischen den Inseln hindurch und endlich in den Hafen. Wir machen am Gästeschwimmsteg fest und freuen uns, dass wir die Leinen mal wieder gezeitenunabhängig kurz machen können.
Nach einem kleinen Mittagessen machen wir uns trotz Müdigkeit auf, um die Gegend ein wenig zu erkunden. Wir spazieren zum Leuchtturm, der westlich auf einem kleinen Hügel steht. Von See aus konnte man sehen, wie sich die Häuser auf der wetterabgewandten Seite dieses Hügels gruppieren. Man hat hier einen guten Blick über das ganze Schärengebiet, das sich um Sula herum lagert.
Auf dem Rückweg kehren wir im Pub ein, der direkt am Hafen liegt und zusammen mit dem kleinen Einkaufsladen und der Landungsbrücke für die Schnellfähre das Zentrum des öffentlichen Lebens hier ist.
Drinnen sitzen drei Gäste mit Essen und Getränken. Die Wirtin steht an der Bar und blättert in einer Zeitschrift. Das Motto des Raums ist "Schiff". An der Wand hängt eine große Bronzetafel, die wohl früher an einer großen Maschine befestigt war, jedenfalls informiert sie darüber, dass dieser Dieselmotor von der Firma XY in Schweden hergestellt wurde, anno 1956. Die Lampen an der Decke sind Schiffslampen nachempfunden, an den Wänden hängt maritime Stimmungsdeko, ein Stück Fischernetz, ein kleines Nebelhorn, ein alter Südwester, in einer Vitrine steht ein Modellschiff. Auch von der Größe her erinnert der Raum an Schiff. Die Decke ist niedrig, zwischen den Tischen ist nicht besonders viel Platz, aber doch genug, dass man gut durchkommt, alles ist funktional gestellt und doch auf Gemütlichkeit gerichtet. Aus den Boxen kommen französische Chansons, was dem Ganzen einen merkwürdigen Touch gibt, der zwischen mediterranem Flair und der Tristesse einer Kaurismäki-Szene schankt. Am Stammtisch vorne in der Ecke sitzen drei Gäste mit Essen und Bier. Wir werden auf Norwegisch begrüßt, aber ein Wechsel auf Englisch gelingt trotz unseres auf Norwegisch geradebrechtem Spruch, dass wir kein Norwegisch können, nicht so gut.
Auf der Speisekarte stehen ein Wildgericht, eine Quiche (Chanson!), ein Fischburger und eine Fischsuppe. Ich nehme die Fischsuppe und bin nach den ersten skeptischen Bissen ziemlich begeistert. Am Nebentisch spricht man über die Tyske, die Deutschen, und ich höre vor allem ein wenig Neugier in den kurzen Wortwechseln mit der Wirtin.
Beim Zahlen geben wir großzügig Trinkgeld, wegen dem Spruch am Geldbecher: Wir sparen auf ein Segelboot. Auch andere Gäste, die nach uns kommen, lachen über diesen Satz. Lustig ist der vor allem, weil hier eigentlich alle ein Boot haben, und es deshalb nicht lustig wäre, da hinzuschreiben: Wir sparen auf ein Boot. Segelboote sind aber eher selten, die meisten Leute sind mit Motorbooten unterwegs, weil man damit die Strecken zwischen den Inseln schneller zurücklegen kann und auch beim Ankern und Anlegen in Häfen flexibler ist als mit einem Segelboot, das nur langsam unterwegs ist. Segelboote sind vor allem Urlaubs- und Freizeitboote, während man ein kleines Motorboot auch notwendig braucht, um Freunde zu besuchen oder auf dem Festland einzukaufen.

Hundert-Meilen-Stiefel

Am nächsten Tag schlafen wir lange aus und erholen uns ein wenig an Bord. Gegen Mittag checken wir den Wetterbericht und planen die nächsten Tage. Der leichte Nordwind soll noch einen Tag bleiben, danach ist Flaute angesagt. Weil die Nachtfahrt gut geklappt hat und wir mit einem langen Schlag hundert Meilen geschafft haben, und weil sich diese Hundert-Meilen-Stiefel ziemlich gut anfühlen, beschließen wir, den Wind noch zu nutzen und die kommende Nacht wieder durchzufahren, bis Roervik, dem nächsten Milestone auf unserer Reise nach Norden.
Gegen fünf Uhr nachmittags lösen wir die Leinen. Das erste Stück, das durch eine enge und nicht trivial zu navigierende Fahrrinne zwischen den Schären und Felsen, über und unter Wasser, hindurch führt, motoren wir. Nach etwa zwei Seemeilen öffnet sich das Fahrwasser und wir setzen die Segel. Segeln an einer Fischfarm vorbei, die sich hier an die Felsen gehängt hat. Weil nicht besonders viel Platz ist können wir hier nicht den gleichen Respektabstand halten wie sonst und fahren recht dicht an den mit Netzen überspannten Käfigen vorbei. Es platscht und plätschert von dort, ständig springen Fische hoch, bis an die Netze. Und keine kleinen. Ich stelle mir vor, wie das unter Wasser aussehen muss. Ein ganzer Schwarm dicht gedrängt gehalten von einem engmaschigen Zaun. Die Farm hat fünf solche Käfige, an jeden sind eine Reihe von Schläuchen angeschlossen, und ich frage mich, ob die Fische auf diese Weise nicht nur gefüttert, sondern auch geerntet werden?
Dann sind wir an der Fischfarm vorbei gesegelt, fallen nach Steuerbord ab, segeln durch eine schmale, aber tiefe Durchfahrt und sind dann im offenen Wasser des Frohavet, das zwischen dem Schärengürtel zwischen Sula und dem Leuchtturm Halten liegt. Wir segeln in Lee des Schärengürtels bei wenig Wind, kommen aber mit drei bis vier Knoten noch passabel voran, sodass wir die Segel stehen lassen. gegen Mitternacht liegt der Leuchtturm Halten querab, wir verlassen das Frohavet und segeln wieder hinaus auf die Norwegische See. Eine lange, alte Dünung schaukelt uns. Der Wind bleibt schwach und dreht, anders als vorhergesagt, nicht auf Nordwest, sondern bleibt nördlich, sodass wir unser Ziel, Roervik, nicht mehr anliegen können. Wir fallen ab und erreichen am frühen Vormittag etwa dreißig Meilen vor Roervik die Küste. Hier schläft der Wind ganz ein. Wir nehmen die Segel runter und starten den Motor.
Seit wir die Fjorde und inneren Fahrwasser verlassen haben, haben wir kein anderes Segelboot mehr gesehen. Aber jetzt kommt von Süden her langsam eins näher, wie wir unter Motor. Überholer muss sich freihalten, also bleibt unser Autopilot auf Kurs. Peilung wandert nur wenig aus, und ich frage mich, wann die denn drehen? Gar nicht, das Boot passiert trotzdem etwa fünfzig Meter entfernt an Backbord. Es ist niemand an Deck. Na gut. Deshalb vielleicht offene See?
Wir halten trotzdem weiter gut Ausschau. Als plötzlich das Echolot von unendlicher Tiefe (>=200 Meter) auf 13,4 Meter springt. Dann auf 12, 11, neun Meter. Dann wieder 15, Lea ist schon am Plotter und ruft Entwarnung: Hier gibt es nicht mal Unterwasserberge, die so hoch reichen würden. Unser Echolot spinnt. Ich denke an Fische, aber dafür sind die Messungen zu konstant. Ich schalte das Gerät aus und wieder ein. Es zeigt weiter Tiefen zwischen neun und zwanzig Metern. Hat sich vielleicht irgendwas auf das Glas des Gebers gesetzt, eine besonders geformte Pocke, die das Echo so zurückwirft, dass es konstant diese falschen Werte anzeigt? Nach einer halben Stunde, ein Fischer hat gerade unseren Kurs gequert, beschließen wir, dass es doch Fische sein müssen, die hier entlang der Küste ziehen. Riesige Schwärme, das Echolot zeigt die ganzen verbleibenden vier, fünf Stunden bis zur Einfahrt nach Roervik diese Werte. Nur ganz selten klafft eine Lücke im Schwarm und das Echolot zeigt die drei bekannten Striche, die es bei dieser Tiefe zeigen soll. Um dann wieder zurück zu springen. Kurz überlege ich, den Trolling-Köder auszuwerfen, den ich dabei habe, einfach um auch zu sehen, was denn da für Fische die ganze Zeit unter uns schwimmen. Ich lasse es dann aber bleiben. Einmal fürchte ich, dass ein wirklich großer Fisch dran gehen könnte und ich den dann nicht an Bord kriege. Oder der mich runterzieht. In die Tiefe. Nach unten, zwischen die Unterwasserberge, durch Täler und Felder und Wiesen und Wälder aus Algen, Quallen und Granit, in die Schwärme dieser Fischleiber hinein.
Außerdem ist gerade keine Essenszeit. Und ich fange aus Prinzip keinen Fisch, den ich nicht esse. Nur wenn er zu klein ist gebe ich ihn wieder ins Meer.
Am frühen Abend erreichen wir Roervik. Am Gästesteg ist noch ein letzter Platz frei, in den Aimé gerade so hineinpasst. Weil nur sehr wenig Platz ist und der Wind seitlich weht, manövrieren wir uns rückwärts in die Gasse. Ein freundlicher Stegnachbar nimmt unsere Leine an. Wir schaffen es mit Motorkraft allein nur bis etwa zwei Meter neben den Steg. Die erste Leinenübergabe scheitert, die Leine fällt ins Wasser. Der nette Herr zeigt ganz erstaunlichen Einsatz, legt sich bäuchlings auf den Steg und angelt nach der Leine, erreicht sie aber nicht. Der zweite Versuch klappt besser. Wir belegen die Leine als Spring und ziehen uns dann ganz langsam an den Steg. Wir sind erschöpft, aber glücklich darüber, dass wir diese kleine selbstgestellte Probe gut bestanden und in kurzer Zeit viel Strecke gemacht haben. Und über das Erlebnis der pastellfarbenen See vor Sula, dem Blick aufs Meer bis zum Horizont.

Mitternachtsdämmerung

Wir bleiben einen Tag in Roervik, um Klamotten zu waschen und uns nach den beiden langen Etappen ein wenig auszuruhen. Unterwegs sein kostet Kraft, auch wenn wir versuchen, möglichst *sustainable* zu segeln, also so, dass wir ständig bei Kräften bleiben, und uns nicht auspowern mit Blick auf den sicheren Hafen und die Ruhezeit nach der Fahrt. So richtig haut das aber eben noch nicht hin.
Roervik ist ein größerer Hafen, für Freizeit, Industrie und Fischerei. Die Stadt selbst ist allerdings sehr verstreut. Am Hafen gibt es die üblichen Bootsläden für Motoren und Bootszubehör, außerdem einen Baumarkt und zwei Tankstellen, die für Boote und Autos zugleich gedacht und deshalb direkt am Wasser gebaut sind. Hier tanken Boote und Autos aus dem gleichen Zapfhahn. Das zeigt ein bisschen, welche Rolle hier die kleinen Motorboote spielen, die man ständig über die Fjorde heizen sieht. Viele Ferienhäuser, die man hier und da auf die eine oder andere kleine Insel gebaut hat, sind nur mit dem Boot erreichbar. Und viele Wege sind mit dem eigenen Boot schneller zu machen, weil mit dem Auto entweder Fähren oder Brücken benutzt werden müssen und deshalb oft große Umwege zu machen sind, obwohl der Fährverkehr in Norwegen wirklich gut entwickelt und ausgebaut ist. Jedenfalls begegnen uns ständig Fähren, die zwischen den größeren Inseln und dem Festland oder quer über tief ins Land schneidende Fjorde verkehren.
Jeden Abend begegnen sich hier die beiden Hurtigschiffe, die zwischen Bergen und einem Ort im fernen Norden verkehren, der mir nicht bekannt ist. In Norwegen gibt es einen Fernsehkanal, der rund um die Uhr einen Livestream von einem der Hurtigschiffe sendet, die auf der Hurtigrute durch die Fjorde und Schärengürtel der norwegischen Küste fahren. Vielleicht ist das hier das, was früher auf Bayern 3 die Space Night war? Ob die auf dem Hurtigruten-Livestream auch entsprechende Musik laufen haben?
Neben den Bootsläden und Tankstellen gibt es noch mehrere Supermärkte mit großen Parkplätzen und eine kleine Fußgängerzone mit kleineren Läden. Dazu noch einen Pub. Das zusammen ist wahrscheinlich das, was man hier Zentrum nennt. Aber wirklich verdichtet ist das Leben hier nicht. Auf dem kurzen Weg vom Hafen zu diesem Zentrum laufen wir an einer Reihe von Häusern vorbei, die hier in bester Lage verfallen. Die Dächer werden von einer Unzahl an Möwen bewohnt, die hier ihre Nester gebaut haben. Die jungen Möwen machen Flugübungen und flattern laut krächzend knapp über unsere Köpfe.
Wir nutzen den Ruhetag, um unsere Vorräte im Supermarkt ein wenig zu ergänzen. Vor allem Süßkram wird gebraucht, aber auch Marmelade, Brot und frisches Gemüse. Im Supermarkt hören wir plötzlich Deutsch, ein Mann und eine Frau überlegen, woran sie normale Milch erkennen. Später, beim Spaziergang zum äußeren Hafen, wo wir die spektakuläre Begegnung der beiden Hurtigboote verfolgen und fotografieren können -- die beiden Boote fahren sehr, sehr langsam aneinander vorbei, an Deck stehen die Passagiere und jubeln sich gegenseitig zu --, kommen wir an einem kleinen Appartmentkomplex vorbei, die Autos auf dem Parkplatz haben vor allem deutsche Kennzeichen.
Als wir zurück zum Boot kommen erwartet uns ein älterer Mann, den wir zuvor schon auf einem Segelboot gesehen haben, das am Steg gegenüber liegt. Er spricht uns auf unser Boot an, auf deutsch (überhaupt sprechen hier fast alle Menschen deutsch fast so gut wie englisch), und erzählt dann, dass er sein Boot gerade gekauft hat und es jetzt von Bodö (o mit Strich durch) nach Trondheim überführt. Das Boot heißt Jazz und macht einen robusten Eindruck. GFK-Bau aus den siebziger Jahren, als man GFK noch massiv und im Handauflegeverfahren zu stabilen und langlebigen Bootsrümpfen verarbeitet hat. Er empfiehlt uns die Insel Budö als Anlaufpunkt, das Restaurant dort mache einen erstklassigen portugiesisch zubereiteten Dorsch. Es ist 25 Jahre her, dass er gesegelt ist, und jetzt hat er sich dieses Boot gekauft. Gerne hätte ich seine Geschichte gehört, aber es ist spät und wir wollen am nächsten Tag früh los. Der Wetterbericht hat Südwestwind der Stärke sechs bis sieben angekündigt, und den wollen wir nutzen, um nochmal ein gutes Stück nach Norden zu kommen. Wir laden ihn also nicht zu uns ein, und irgendwann gehen alle ihrer Wege. Er will weiter nach Süden, seine Söhne sind an Bord, und sie wollen warten, bis sich der Wind wieder ändert. Wir wünschen uns gegenseitig eine gute Fahrt.
Am nächsten Tag regnet es in Strömen. Und es stürmt ziemlich. Der norwegische Wetterdienst hat für diese Windstärke einen eher niedlichen Ausdruck: liten kuling heißt soviel wie "kleiner Starkwind" oder "little gale". Und mit kleinem Starkwind meinen die hier einen Wind mit sieben Beaufort. Acht Beaufort sind Starkwind. Und dann kommen erst die Sturmtitel. Wir bleiben jedenfalls angesichts des Starkregens, der da mit dem Starkwind gekommen ist, noch ein bisschen im Bett liegen. Frühstücken gemütlich. Auch wenn wir innerhalb des Schärengürtels segeln und dort keinen Seegang haben, sind wir am Ende halt doch Ostseesegler, die bei sieben nicht freudestrahlend die Leinen losmachen.
Gegen elf Uhr ist es dann aber doch soweit. Der kleine Starkwind weht immer noch sehr kräftig, aber der Regen ist etwas weniger geworden. Wir binden noch am Liegeplatz das dritte Reff ins Großsegel und schlagen unsere Starkwindfock an. Mit dieser Besegelung sollte es eigentlich gut gehen. Dann werfen wir die Leinen los. Der Wind drückt uns seitlich auf den Steg. Wir müssen, weil es so eng ist, vorwärts raus, und dampfen in die Achterspring ein, um den Bug rauszudrehen. Aber der Wind ist so stark, dass Lea mit dem Bootshaken und ihrem ganzen Gewicht noch mitdrücken muss. Damit kommen wir dann gut weg. Im äußeren Hafenbecken klarieren wir die Leinen und packen dann in Ruhe Leinen und Fender weg. Ein großer Katamaran, mit Piratenflagge unter der Backbordsaling, fährt an uns vorbei. Die Kollegen haben ihren Gennaker angeschlagen. Und während wir vor dem Hafen unsere Starkwindbesegelung hochziehen, wird auf dem Katamaran der Gennaker ausgerollt. Das Rigg auf dem Katamaran ist aber auch etwas anders gestaltet als unseres. Der Mast ist im Vergleich zur Größe des Rumpfs recht klein, und der Gennaker ist deshalb ebenfalls nicht besonders groß. Mit unserer kleinen Besegelung können wir deshalb sogar eine Weile mit dem Kat mithalten, bis er dann auf seinen zwei Rümpfen voraus in den Regenschleiern langsam verschwindet.
Weil der Wind in den Düsen zwischen den Inseln nochmal heftiger weht, bergen wir das Großsegel und fahren eine Weile nur mit der Starkwindfock, die wir aber schon bald gegen die 35er Arbeitsfock tauschen. Mit dieser Besegelung zieht der Wind uns gut, es gibt aber noch genug Reserve für die Böen, und so segeln wir mit fünf bis sieben Knoten zügig gen Norden. Als später der Wind etwas abflaut setzen wir das Großsegel, erst im zweiten Reff, später ganz. Als Zwischenstop haben wir den Hafen Tjoetta gewählt, der günstig an unserer Gesamtroute gelegen ist. Eine Stunde nach Mitternacht, im Dämmerlicht, schläft der Wind ein. Wir bergen die Segel und motoren die letzten fünf Meilen. In Tjoetta ist der Gästesteg komplett belegt. Auch sonst gibt es im Hafen keine Liegemöglichkeit. Wir sind müde. Der Norske Los, der norwegische Lotse, ein Handbuch für alle Seefahrer, empfiehlt als Ankerplatz die Bucht direkt neben dem Hafen. Gegen zwei fällt dort unser Anker, und um halb drei liegen wir im Bett, hundemüde, erschöpft, froh um den guten Segeltag. Einschlafen ist nicht einfach, weil es noch so dämmrig ist wie im deutschen Hochsommer gegen zehn Uhr abends. Wir fahren der Mitternachtssonne hinterher und haben hier, eine Tagesreise südlich des Polarkreises, schonmal Mitternachtsdämmerung.

31. Jul. 2016

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